Am Ufer der Traeume
abgeben und bekamen zu hören, dass man sie ihnen beim Verlassen des Arbeitshauses zurückgeben würde. Das Essgeschirr durften sie behalten. »Zum Waschen!«, lautete der nächste Befehl. Man schickte sie in einen Waschraum, wo sie von zwei anderen Insassinnen gründlich gesäubert und gebürstet wurden. Eine Schwester aus der benachbarten Krankenstation erschien und untersuchte sie auf ansteckende Krankheiten und Ungeziefer.
»Anziehen!«, hieß es, nachdem auch diese Prozedur vorüber war. Die Hausmutter händigte ihnen die Uniformen aus, einfache graue Arbeitskleider, derbe Schuhe, Unterwäsche und Strümpfe, alles von den Insassinnen, die am Morgen gestorben waren, wie man ihnen später erzählte, aber gründlich gereinigt.
»Damit eines gleich klar ist«, herrschte die Hausmutter sie an, kaum dass sie die Uniformen übergestreift hatten. »Ich lege Wert auf äußerste Disziplin. Nur wer sich in diesem Haus an die Regeln hält, ist es wert, von der Regierung mit Unterkunft und Nahrung beschenkt zu werden. Wer gegen diese Regeln verstößt, hat mit empfindlichen Strafen zu rechnen. Diese Regeln lauten, und ich zähle sie euch nur einmal auf: Erstens: Meine Befehle sind widerspruchslos auszuführen. Zweitens: Jede Insassin hat sich an den vorgegebenen Tagesablauf zu halten. Sechs Uhr: Aufstehen, danach Morgenappell und Frühstück. Sieben Uhr: Arbeitsbeginn. Zwölf Uhr: eine halbe Stunde Pause. Achtzehn Uhr: Feierabend, danach Abendessen. Zwanzig Uhr: Licht aus. Du ...« Sie wandte sich an Rose Campbell. »... arbeitest in der Wäscherei. Die beiden anderen ...« Sie blickte Molly und Fanny an. »... in der Näherei. Der Kontakt mit den männlichen Insassen ist streng verboten. Habt ihr mich verstanden?«
»Ja, Ma’am«, antwortete Molly leise.
»Was ist mit euch?« Sie trat auf Fanny und ihre Mutter zu.
»Ja, Ma’am«, erwiderten die beiden widerwillig.
»Mitkommen!«
Diesmal führte Mary McDowell sie durch den langen Speisesaal in dem Verbindungsbau zum Hauptgebäude und über eine steile Wendeltreppe in den Schlafraum unter dem Dach. Kühle und feuchte Luft schlug ihnen entgegen. Im Schein der Öllampe, die auf einer Anrichte neben der Tür stand, erkannten sie eine Vielzahl von einfachen Strohlagern, die so dicht beieinanderlagen, dass man kaum zwischen ihnen hindurchgehen konnte. Über zweihundert Frauen, schätzte Molly, lagen oder hockten auf ihren Lagern, die meisten so schwach und ausgezehrt, dass sie kaum die Kraft besaßen, die Neuankömmlinge zu mustern. Statt des erwarteten Stimmengewirrs hing ein verzweifeltes Stöhnen in der Luft, nur übertönt vom heftigen Schluchzen einer jungen Frau. Als sie die Hausmutter erblickte, stemmte sie sich von ihrem Strohlager hoch und rief laut: »Ich will zu meinem Sohn! Lassen Sie mich zu meinem Sohn! Sie dürfen ihn mir nicht wegnehmen! Ich will endlich zu ihm!«
Die Hausmutter hielt sie auf und drückte sie auf ihr Nachtlager zurück. »Er ist bei den anderen Kindern. Du kannst nicht zu ihm. Du weißt doch, dass wir Männer, Frauen und Kinder getrennt unterbringen müssen. Es ist nur zu eurem Besten, oder willst du, dass sich eines der Kinder bei euch ansteckt?«
»Wir sind nicht krank!« Die Frau schniefte laut. »Ich will zu ihm!«
Die Hausmutter zeigte keine Spur von Mitleid. »Wenn du ihn unbedingt in deiner Nähe haben willst, müsst ihr gehen. Es steht euch frei, das Arbeitshaus jederzeit zu verlassen. Aber glaubt nicht, dass wir euch dann noch mal aufnehmen. Wer uns verlässt, hat kein Recht mehr, ein Arbeitshaus zu betreten.«
»Aber dann sterben wir!«
»Du hast die Wahl. Entweder bleibst du hier und dein Sohn in der Kinderabteilung oder ihr verlasst das Arbeitshaus und verhungert in der Kälte.«
Molly konnte sich nicht länger beherrschen. »Warum sind Sie so herzlos?«, fuhr sie die Hausmutter an. »Die arme Frau will doch nur bei ihrem Sohn sein. Sie ist gesund und steckt ihn bestimmt nicht an. Sie sehen doch, wie sie leidet.«
»Wir haben unsere Vorschriften. Kinder unter dreizehn Jahren kommen in die Kinderabteilung. Und du wirst morgen ohne Frühstück auskommen müssen. Ich habe dir gesagt, welche Regeln ihr beachten müsst, und dazu gehört auch, dass ihr meine Befehle widerspruchslos ausführt. Ich will niemanden schikanieren, aber ohne Disziplin kommen wir in unserem Haus nicht aus.«
»Und wie das Schikane ist!« Molly war viel zu aufgebracht und wütend, um sich zurückzuhalten. »Wie herzlos muss man denn sein, um einer
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