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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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im Winter, wenn die Erde zu hart und gefroren für mehrere Gräber war, versenkte man die Leichen auch in Gemeinschaftsgräbern.
    Im hellen Licht der zahlreichen Öllampen, die an den Wänden der Eingangshalle brannten, sah der Master noch hagerer und älter aus. Er hielt ein Buch mit den Namen aller weiblichen Bewohner in den Händen und las sie in alphabetischer Reihenfolge vor. Die Frauen waren angehalten, mit einem knappen »Ja!« zu antworten. »Fehlen nur noch die Flinten«, flüsterte Fanny.
    Blakely ratterte die Namen im Eiltempo herunter. Er hob kaum den Kopf, wenn die Frauen antworteten, und schien sichtlich gelangweilt von der ganzen Prozedur. Nur als er Fannys Namen aufrief, schaute er hoch und suchte den Blickkontakt mit ihr. Als sie »Hier!« sagte und er sie in der zweiten Reihe stehen sah, lächelte er kaum merklich. Diesmal sah es auch Molly. Zu ihrem Erstaunen bemerkte sie, dass Fanny sein Lächeln erwiderte und scheinbar gedankenlos eine Haarsträhne aus dem Gesicht schob. Ihre Standardgeste, wenn sie besonders verführerisch auf einen jungen Mann wirken wollte. Mit dem Unterschied, dass William Blakely mindestens zwanzig Jahre älter als ihre achtzehnjährige Schwester war.
    »Was sollte das vorhin?«, flüsterte Molly ihrer Schwester während des Frühstücks zu. Sie durfte mit am Tisch sitzen, bekam aber weder Kräutertee noch Haferbrei. »Warum hast du dem Master schöne Augen gemacht?«
    »Hab ich doch gar nicht.«
    »Ich hab’s gesehen, Fanny.«
    Fanny kaute lustlos auf ihrem Haferbrei. Die Hausmutter stand ganz in der Nähe und achtete darauf, dass niemand Molly etwas zusteckte. »Und wenn«, antwortete Fanny leise. »Vielleicht kann ich ein paar Vergünstigungen für uns rausschlagen. Heiße Brühe für Mutter, eine warme Decke für die Nacht ...«
    »Der Preis ist zu hoch, Fanny!«
    »Ein Lächeln kostet nichts.«
    »Und wenn er mehr will? Was machst du dann?«
    Darauf bekam Molly keine Antwort. Stattdessen stand plötzlich die Hausmutter vor ihr und beugte sich mit ihrem strengen Habichtgesicht zu ihr herunter. »Während des Frühstücks wird nicht gesprochen«, erklang ihre mahnende Stimme. »Oder willst du morgen wieder mit Essen pausieren? Ich kann dich auch ins Loch werfen lassen, da ist schon so manche vernünftig geworden.«
    »Ja, Ma’am. Ich meine ... nein, Ma’am.«
    »Halt den Mund!«
    Auf dem Weg zur Arbeit versuchten Molly und Fanny, ihre Mutter aufzumuntern. Mit Floskeln wie »Du bist stark, Mutter!« und »Zusammen stehen wir das durch!« gaben sie ihr zu verstehen, wie sehr sie an ihr Durchhaltevermögen glaubten. Rose Campbell war eine zähe Frau, sonst hätte sie die harten Jahre auf der Farm niemals überstanden. Erst die Kartoffelfäule und die Hungersnot hatten sie in die Knie gezwungen. Aber obwohl sie manchmal nahe daran gewesen war, sich der Gnade ihres Herrgotts anzuvertrauen, hatte sie niemals aufgegeben, selbst den eisigen Blizzard hatte sie überstanden.
    Die Waschküche war kein idealer Arbeitsplatz für eine Frau, die anfällig für Krankheiten war. Die feuchte Luft und der strenge Geruch der Seife würden ihr sicher zu schaffen machen, ganz zu schweigen von der Ansteckungsgefahr, die von der schmutzigen Kleidung der Kranken ausging. Dennoch folgte sie den anderen Wäscherinnen hoch erhobenen Hauptes. Sie lächelte sogar, als sie sich von ihren Töchtern verabschiedete. »Macht euch um mich keine Sorgen!«, sagte sie. »Passt lieber auf, dass ihr beim Nähen keinen Fehler macht. Vergesst nicht, einen Knoten in den Faden zu machen.«
    Die Nähstube bestand aus einem rechteckigen Raum, in dem zehn Frauen an einem langen Tisch saßen und neue Kleider nähten. Mrs. Edith Morris, die verheiratete Schwester des Masters, führte die Aufsicht. Sie reichte Molly und Fanny einige zerrissene Uniformen und trug ihnen auf, sie auszubessern. Ihre Ähnlichkeit mit ihrem Bruder war erschreckend, und auch ihre strenge Stimme erinnerte an den Master: »Und dass ihr mir zügig arbeitet! In diesem Arbeitshaus gibt es nichts umsonst, hier muss man sich Unterkunft und Essen verdienen, also keine unnötigen Unterhaltungen. Ich hoffe, wir haben uns verstanden?« Sie setzte sich auf ihren Stuhl am Kopfende. »An die Arbeit!«
    Weder Fanny noch Molly waren sonderlich begabt und stachen sich mehrmals in die Finger, bevor sie sich einigermaßen an ihre Arbeit gewöhnt hatten. Jedes Mal, wenn sie vor Schmerz zusammenzuckten, ernteten sie einen strafenden Blick der Aufseherin. »Dass

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