Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
Vom Netzwerk:
Mutter zu verbieten, ihr Kind zu sehen? Nicht mal die Engländer dürfen so etwas.«
    »Anscheinend willst du morgen überhaupt nichts essen«, erwiderte die Hausmutter nüchtern. Sie ließ sich nicht provozieren. »Wie du willst. Kein Frühstück, kein Mittag- und kein Abendessen. Und noch ein Wort und du landest heute Nacht im Kerker. Dort ist es beinahe so kalt wie draußen vor der Tür.«
    Molly fühlte, wie Fanny sie warnend in die Seite stieß, und schluckte die bissige Antwort, die sie auf der Zunge gehabt hatte, hinunter. Sie bereute schon fast, das Arbeitshaus betreten zu haben, so schlimm und unmenschlich hatte sie es sich nicht vorgestellt, aber es gab keine andere Möglichkeit für sie. Im Winter fuhren kaum Schiffe, und die Gefahr, dass sie auf dem langen Weg nach Dublin in einen weiteren Schneesturm gerieten und erfroren, war viel zu groß. Sie mussten bis zum Frühjahr durchhalten. Aber alles würde sie sich nicht gefallen lassen, nahm sie sich vor, ein Arbeitshaus war schließlich kein Gefängnis, auch wenn sich die Hausmutter wie eine Aufseherin benahm.
    Mary McDowell führte sie zu drei Strohlagern unter dem schrägen Dach. Glücklicherweise befanden sie sich neben dem einzigen Fenster, durch dessen Ritzen wenigstens ein bisschen frische Luft hereinkam. Auf einem der Lager lagen ein paar zerfledderte Decken. »Hier schlaft ihr«, sagte die Hausmutter. »Aufstehen um sechs Uhr.«
    »Ja, Ma’am«, erwiderte Molly und sank erschöpft auf ihr Strohlager. Sie sah noch, wie sich ihre Schwester und ihre Mutter ebenfalls hinlegten, und lächelte ihnen aufmunternd zu, dann erlosch die Öllampe und sie schlief ein.

8
    Pünktlich um sechs Uhr früh läutete die Arbeitshaus-Glocke. Der dumpfe Klang riss Molly aus dem Schlaf und ließ sie verstört in den schwachen Schein der Öllampe blinzeln. Ihr taten alle Knochen weh. Das dürftige Strohlager war härter als ihre Bettstatt in der Höhle und die Luft unter dem Giebeldach war klamm und feucht. Das Holz in dem bulligen Ofen, der in der Mitte des großen Raumes stand, war schon seit einigen Stunden heruntergebrannt. Für jede Nacht stand nur ein begrenzter Vorrat an Brennholz bereit.
    Neben ihr setzten sich Fanny und ihre Mutter auf. Ihre Mutter hustete wieder und stöhnte hörbar, als sie sich vom Lager hochstemmte. Molly stützte sie und sagte: »Halt durch, Mutter! Im Frühstücksraum und in der Wäscherei ist es bestimmt wärmer. In ein paar Tagen bist du wieder auf dem Damm.«
    Ihre Mutter antwortete nicht, hustete stattdessen laut und heftig und klammerte sich an Molly, bis der Anfall vorüber war. Einige der anderen Frauen blickten misstrauisch zu ihnen herüber. Die Angst, sich anzustecken und an Keuchhusten oder einer anderen Krankheit zugrunde zu gehen, war groß.
    »Es geht schon wieder«, sagte sie zu ihren Töchtern.
    Molly und Fanny tauschten einen raschen Blick, teilten die Angst, ihre Mutter könnte sich in der feuchten Luft unter dem Dach so stark erkälten, dass sie zusammenbrach und starb. Hohes Fieber konnte auch der Arzt nicht heilen, der im hintersten Gebäude, das zu einer notdürftigen Krankenstation umgebaut worden war, seinen Dienst tat. Während des Frühstücks erfuhren sie von einer anderen Insassin, dass er gar kein richtiger Arzt war und seine Krankenschwester entschied, wie die Patienten behandelt werden sollten. Die vielen Kreuze hinter dem Gebäude und die namenlosen Gräber verrieten, dass ihr nur wenig Erfolg beschieden war. Ein Leben zählte im Arbeitshaus nicht viel.
    Bevor sie den Frühstücksraum für weibliche Bewohner betreten durften, mussten sie in der Eingangshalle zum Morgenappell antreten. Ausgerichtet wie Soldaten auf dem Paradeplatz warteten sie auf den Master. Molly und Fanny nahmen ihre Mutter in die Mitte und stützten sie so geschickt, dass es nur die hinter ihnen stehenden Frauen sehen konnten. Zum Glück war es einigermaßen warm in der Eingangshalle, dank der bullernden Öfen, die in den angrenzenden Wohnräumen des Masters und seiner Angestellten brannten.
    William Blakely trug einen schwarzen Anzug und eine schwarze Krawatte, obwohl er es sich längst abgewöhnt hatte, den täglichen Beerdigungen hinter der Krankenstation beizuwohnen. Seit die Hungersnot begonnen hatte und jeden Tag mehrere Menschen begraben werden mussten, sparte er sich die Mühe. Man verzichtete sogar darauf, die Namen der Toten in die Kreuze zu brennen. Der Aufwand lohnte nicht. An manchen Tagen, wenn es mehr als drei Tote gab, oder

Weitere Kostenlose Bücher