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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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fest umschlungen, als wollten sie sich mit allen Kräften dagegen wehren, noch einmal getrennt zu werden. Molly lauschte dem Atem und dem Herzschlag ihres Liebsten, beides zu schnell und zu aufgeregt und doch so beruhigend, als würde er mit seinem Atem ihre Lungen füllen und sie mit seinem Herzschlag zu neuem Leben erwecken. Um sie herum war andächtige Stille, nicht mal das leiseste Geräusch drang zu ihnen.
    Als sie sich erneut voneinander lösten, erzählte sie ihm, was sie während der vergangenen Tage erlebt hatten. Vom Inte-resse des Masters an Fanny, ihrem Lächeln beim täglichen Appell, wie sie vor einigen Tagen von ihm gerufen worden war und hoch und heilig versichert hatte, ihm nur erlaubt zu haben, ihre Wange zu streicheln. Von den Vergünstigungen, die sie daraufhin erhalten hatten, und wie die leichtere Arbeit in der Nähstube und die neue Decke ihrer Mutter wahrscheinlich das Leben gerettet hatten. »Was immer Fanny getan hat«, sagte sie, »hat sie für Mutter getan. Sie ist nicht schlecht.«
    »Ich weiß«, erwiderte Bryan. Er blickte sie besorgt an. »Aber sie muss aufpassen. Wenn sie ihn zu oft besucht, will er vielleicht, dass sie ganz zu ihm zieht. Ich würde mich lieber mit dem Teufel einlassen als mit diesem ... diesem Dreckskerl. Wasser und Brot, selbst der Kerker wären mir lieber.«
    »Ich lasse nicht zu, dass man ihr was antut«, versprach Molly.
    Aus der Eingangshalle drangen Schritte und gedämpfte Stimmen zu ihnen herein. Sie erstarrten und blickten einander entsetzt an. So leise, dass sie nicht das geringste Geräusch verursachten, pressten sie sich neben der Tür in eine Nische, in der Hoffnung, dass man sie nicht entdeckte, falls man sich entschloss, den Speisesaal für Männer zu betreten. Tatsächlich blieben die beiden Personen direkt vor ihrer Tür stehen. Jetzt war jedes Wort zu verstehen.
    »Sieben Tote«, sagte eine männliche Stimme. »Es werden immer mehr.«
    »Der Pfarrer«, erkannte Bryan flüsternd.
    »Und wir können nichts dagegen tun.« Die müde Stimme der Krankenschwester. »Der Schwarze Tod, die Cholera, schwerer Husten ... gegen keine dieser Krankheiten ist ein Kraut gewachsen. Wenn man ihnen nur besseres Essen geben würde ... kräftige Suppe, etwas Obst ... das würde schon helfen.«
    »Die Vorräte sind knapp«, erwiderte der Pfarrer. »Wir können schon froh sein, wenn wir ihnen überhaupt was zu essen geben können. Die Männer vom Board versuchen, wenigstens für Weihnachten etwas Besonderes zu bekommen.«
    »Der Master bekommt jede Woche was Besonderes.«
    »William Blakely hat die Verantwortung.«
    »Ich weiß, aber heißt es nicht in der Bergpredigt: ›Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden?‹ Warum zeigt die Regierung kein Erbarmen? Warum tut sie nichts gegen die Hungersnot? Warum tut Gott nichts?«
    »Die Regierung sitzt in England und eher geht die Sonne im Osten unter, als dass ein Engländer seinen Fuß auf irischen Boden setzt. Die Engländer haben unsere heilige Kirche verlassen und handeln nicht so, wie es ihnen die Schrift vorschreibt. In der Bergpredigt heißt es auch: ›Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich.‹ All die armen Menschen, die wir auf dem Gottesacker hinter der Krankenstation begraben haben, sind längst im Paradies und erfreuen sich an der unendlichen Gnade unseres Herrn. Litt Jesus Christus nicht ebenso unmenschliche Qualen, und sagte ihm unser Herrgott nicht, es sei notwendig, diesen bitteren Kelch zu leeren, wenn er das Himmelreich erblicken wolle? Vertraut dem Herrn, Schwester!«
    »Ich vertraue ihm, Pater. Aber manchmal sind seine Wege schwer zu verstehen. Wenn ich an die Kinder denke, die wir jeden Tag begraben müssen ...«
    »Sie bekommen besseres Essen, Schwester. Sogar etwas Fleisch ...«
    »Weil wir uns dafür eingesetzt haben.« Die Stimme der Schwester klang verletzt und auch ein wenig wütend. »Aber es hat zwei Monate gedauert, bis uns die Regierung diese Vorräte bewilligt hat. Und es ist noch immer nicht genug. Wir brauchen mehr Personal, wenn wir in diesem Arbeitshaus wirklich etwas bewegen wollen. Die Kinder brauchen dringend unsere Hilfe.«
    »Ich weiß, Schwester, und glauben Sie mir: Den Verantwortlichen ist das ebenso klar. Niemand will, dass diese Kinder schon so früh aus dem Leben gehen, auch wenn sich unser Herr besonders liebevoll um sie kümmern wird.« Er schwieg eine Weile. »Wie geht es dem kleinen Timmy, Schwester? Hat er sich wieder erholt? Er hatte

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