Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
Vom Netzwerk:
wäre, und litten mit den vielen anderen schwachen Frauen, die nicht in den Genuss einer kräftigeren Suppe oder eines stärkeren Tees kamen. Vor allem Bridget tat Molly leid. Die junge Mutter saß ihr mit verweinten Augen gegenüber, den Blick starr auf ihre Suppe gerichtet und vor Kummer kaum fähig, etwas zu essen. Obwohl sie kaum älter als Molly war, wirkte sie magerer und ausgezehrter. Die Sorge um ihren Sohn schien sie innerlich aufzufressen. Molly löffelte unbemerkt ein paar Fleischbrocken in ihren Teller und lächelte aufmunternd, als Bridget sie verblüfft ansah. »Timmy geht es gut, ich weiß es, Bridget.«
    Am nächsten Tag bekamen sie wieder das gleiche Essen wie die anderen, doch viel wichtiger war, dass Rose Campbell auch weiterhin in der Nähstube arbeiten und neben dem warmen Ofen sitzen durfte. Im Schlafsaal half ihr die neue Decke, sich warmzuhalten. Die Hausmutter ließ sie in Ruhe, wenn auch widerwillig, und beschränkte sich darauf, Molly böse Blicke zuzuwerfen. Offensichtlich hatte ihr jemand die Anweisung gegeben, sie besser zu behandeln. Sie ließ ihren Ärger an anderen Frauen aus, verhängte drastische Strafen für geringfügige Vergehen, sperrte eine Frau sogar in den Kerker, als sie sich über die Zustände im Arbeitshaus beschwerte. »Die Engländer wollen doch, dass wir alle verrecken!«, schimpfte die Frau. »Und Sie helfen ihnen noch!«
    Als sie zwei Tage später den Speisesaal verließen und die Treppe zum Schlafsaal emporstiegen, schob sich Ellen neben Molly. »Um Mitternacht in der Eingangshalle«, flüsterte sie ihr zu. »Wenn ihr erwischt werdet, habt ihr Pech gehabt. Ich weiß von nichts.« Nach diesen Worten ging Ellen rasch weiter, verschaffte sich mit den Ellbogen mehr Raum und schimpfte unflätig, als ihr eine Frau den Weg versperrte.
    »Immer dieselben!«, lästerte die Frau.
    »Was hast du mit der zu schaffen?«, fragte Fanny.
    »Nichts Besonderes«, antwortete Molly.
    »Du verheimlichst mir doch was.«
    »Du vielleicht nicht?«
    Wie jeden Abend schlief ihre Mutter sofort ein, nachdem sie sich hingelegt hatte. Die neue Decke schützte sie gegen den kalten Luftstrom, der vom Fenster herüberkam. Molly blieb wach und blickte nervös zur Decke empor, lauschte den dumpfen Schlägen der Glocke, die jede volle Stunde anzeigte. Die Unterhaltungen der anderen Frauen verstummten schnell, die meisten waren zu müde, um lange wach zu bleiben. Beruhigt stellte Molly fest, dass auch Fanny regelmäßig atmete. Ihre Schwester und ihre Mutter würden sich nur ängstigen, wenn sie erfuhren, in welche Gefahr sie sich begeben wollte.
    Noch bevor die Glocke Mitternacht schlug, stand Molly auf. Barfuß und ohne eine schützende Decke schlich sie zwischen den Nachtlagern hindurch zur Tür. Niemand hielt sie auf, auch Bridget nicht. Die junge Mutter hatte die Augen geschlossen und atmete ruhig. Molly mochte die Frau und schloss sie und ihren kleinen Sohn regelmäßig in ihre Gebete ein, hoffte inständig, dass Timmy nichts geschah und sie ihn bald wiedersehen konnte.
    Sie öffnete die Tür, huschte in den Gang hinaus und zog sie leise hinter sich zu. Auf der Wendeltreppe war es stockdunkel. Sie hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest und setzte leicht gebückt einen Fuß vor den anderen, bewegte sich so vorsichtig, als würde sie auf rohen Eiern laufen. Zum Glück waren die Stufen aus festem Stein. Obwohl sie stark abgemagert war, hätte eine hölzerne Treppe bestimmt unter ihrem Gewicht geknarrt. Die Hausmutter hatte ihr Zimmer im vorderen Haus, war aber bekannt dafür, dass sie nachts öfter aufwachte und dann einen Kontrollgang unternahm. Auch der Arzt, die Schwester und der Pfarrer waren um Mitternacht öfter unterwegs.
    Molly war froh, als sie das Ende der Treppe erreichte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Hausmutter ihr auf der Wendeltreppe entgegengekommen wäre. Es war streng verboten, nachts den Schlafsaal zu verlassen, und nicht einmal Fanny hätte sie bei einem solchen Vergehen davor bewahren können, im Kerker zu landen. Man durfte nicht mal in den Flur, um sich zu erleichtern, dafür gab es Nachttöpfe, weshalb es nachts meist bestialisch stank. Glücklicherweise war die Hausmutter nicht in der Nähe. In dem Gebäude herrschte unheimliche Stille, selbst in den Ausläufern der Berge war es lauter gewesen, dort hatte man wenigstens das Rauschen des Windes und das Flattern von Nachtvögeln gehört, wenn sie sich aus einem Baumwipfel erhoben.
    Vorsichtig

Weitere Kostenlose Bücher