Am Ufer der Traeume
am eisernen Geländer festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihre Füße waren eiskalt und ohne Gefühl. Die Hausmutter nahm keine Rücksicht auf sie, wandte lediglich einmal den Kopf und rief: »Wird’s bald?«
Erst als sie das Erdgeschoss erreichten und Molly durch ein Fenster im Speisesaal die schwache Sonne über der Mauer stehen sah, erkannte sie, dass es spät am Morgen sein musste. Die Hausmutter packte sie am Oberarm und zerrte sie zur Nähstube. Sie war sichtlich schlechter Laune. »Du hast mehr Glück als Verstand, das weißt du hoffentlich! Wenn es nach mir gegangen wäre, hättest du die ganze Woche im Kerker gesessen, und was zu essen hättest du überhaupt nicht bekommen. Ich weiß nicht, welchen Narren der Master an euch gefressen hat, aber es sieht ganz so aus, als würdet ihr Campbells Sonderrechte bekommen.«
Sie öffnete die Tür und schob Molly in die Nähstube. Edith Morris und die Näherinnen blickten verwundert auf, als sie sich mit einem zögerlichen »Guten Morgen« auf den Platz neben ihrer Schwester setzte. Ihre Mutter und Fanny begrüßten sie mit einem dankbaren Lächeln. Molly rieb sich die Hände in der Wärme, die vom Ofen herüberstrahlte, und griff nach dem Kleidungsstück, das sie in Arbeit hatte und das bereits vor ihr auf dem Tisch lag. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die eisige Kälte und das leichte Zittern aus ihrem Körper bekam und wieder einigermaßen ruhig die Nadel führen konnte.
Während der Arbeit war ihnen nicht verboten zu sprechen, solange sie nicht innehielten, und ihre Mutter sagte: »Schön, dass du wieder hier bist.«
»War es arg schlimm?«, fragte Fanny besorgt.
Molly blickte nicht von ihrer Arbeit auf. »Eiskalt und dunkel. Da unten hältst du es keine zwei Tage aus. Zu essen hab ich auch nichts bekommen.«
»Das wird sich ändern. Ich hoffe es jedenfalls.«
Molly zog ihre Nadel durch den farblosen Stoff und blickte sie forschend an. So leise, dass es ihre Mutter nicht hörte, sagte sie: »Du warst wieder bei ihm, stimmt’s? Du bist zu dem Mistkerl gegangen, damit ich freikomme.« Sie ließ ihre Arbeit sinken. »Warum hast du das getan, Fanny? Ich hätte doch durchgehalten. So kalt war es nun auch wieder nicht. Den einen Tag und die eine Nacht hätte ich auch noch geschafft. Ich hätte ...« Sie fing einen warnenden Blick der Aufseherin auf und nähte weiter. »Hast du es wirklich getan?«
»Ich habe nichts Verbotenes getan, Molly.«
»Bist du sicher?«
Fanny hatte Tränen in den Augen. »Ich war nur kurz bei ihm. Er hat mich gestreichelt und ... es war nicht schlimm, Molly. Ich hab’s auch für Mutter getan. Sie hat heute Nacht wieder gehustet und ich habe Angst, dass sie einen Rückfall bekommt. Sie braucht dringend kräftige Brühe. Du weißt doch, wie leicht sie krank wird.« Sie rieb sich die Tränen aus den Augen. »Der Kerl bedeutet mir nichts, Molly. Ich lasse ihn ein bisschen ... nichts Schlimmes.«
»Was habt ihr denn?«, fragte ihre Mutter neugierig.
»Ach, nichts«, antwortete Fanny.
»Haben Sie dich geschlagen? Dir sonst was angetan? Die Hausmutter war sehr wütend, als sie dich gesucht hat. Wo warst du denn mitten in der Nacht?«
Molly suchte nach einer Ausrede. Ihre Mutter und ihre Schwester durften auf keinen Fall erfahren, dass sie sich mit Bryan getroffen hatte. Sie hätten sich nur unnötig geängstigt. Jeder wusste, dass der Master größten Wert auf die Trennung der Geschlechter legte, weil er glaubte, dem kirchlichen Auftrag auf diese Weise am ehesten gerecht zu werden. Wer sich dieser Regel widersetzte, wurde streng bestraft. Sie wollte nicht, dass sich Fanny und ihre Mutter um sie sorgten und Fanny vielleicht noch etwas Dümmeres anstellte.
Bis zum Mittagessen sprachen sie nur noch wenig. Molly gab vor, in ihre Arbeit vertieft zu sein, verspürte keine Lust, unbequeme Fragen zu beantworten, und stand auch noch zu sehr unter dem Eindruck der langen Nacht im dunklen Kerker, um einen wirklich klaren Gedanken zu fassen. Sie wunderte sich über ihre Schwester, die nervöser als sonst wirkte und sich einige Male in den Finger stach, aber stets zu einem Lächeln fähig war, wenn sich ihre Blicke zufällig begegneten. Die Treffen mit dem Master schienen sie nicht so stark zu belasten, wie Molly befürchtet hatte. Molly zuckte schon bei der Vorstellung zusammen, sich von einem Mann wie dem Master berühren zu lassen. Er war beinahe doppelt so alt wie sie und hässlich, und wenn er sprach, spritzte Speichel
Weitere Kostenlose Bücher