Am Ufer der Traeume
öffnete sie die Tür zum Speisesaal. Die Tür knarrte in den Angeln und ließ sie erschrocken innehalten, dann huschte sie schnell hinein und schloss rasch die Tür hinter sich. Auch in dem lang gestreckten Raum war es still. Durch die Fenster fiel blasses Mondlicht herein und warf breite Streifen auf den Tisch, die Stühle und den steinernen Boden. Sie lief an den Stühlen entlang durch den düsteren Raum und hielt die Luft an, bevor sie die Tür zum vorderen Gebäude öffnete. Dort war sie am meisten gefährdet. Die Zimmer des Masters, der Hausmutter, des Pfarrers, des Arztes und der Krankenschwester gingen von der Eingangshalle ab und das leiseste Geräusch konnte sie verraten. Sie huschte durch die Tür, schloss sie eilig hinter sich und blieb stehen.
Auch in diesem Raum war es finster, doch ihre Augen gewöhnten sich schnell daran und ließen sie eine dunkle Gestalt erkennen. Obwohl sie nur schemenhaft zu sehen war, gab es keinen Zweifel. »Bryan!«, flüsterte sie aufgeregt.
»Molly! Hier entlang!« Bryan nahm sie bei der Hand und führte sie in den Speisesaal der Männer, verschloss die Tür hinter sich und ergriff sie an den Oberarmen. Er grinste übers ganze Gesicht. »Wo bleibst du denn so lange? Ich dachte schon, du hättest dich verirrt. In den Bergen warst du schneller.«
»Da hatte ich auch mehr Licht. Oder sehe ich aus wie eine Eule?«
»Wenn ich’s mir recht überlege ...«
Sie schlang die Arme um seinen Hals. »Lass den Unsinn und küss mich endlich! Oder willst du ewig hier rumstehen und blöde Bemerkungen machen?«
»Diesmal sollst du recht bekommen, Little Red.«
Sie küssten sich so stürmisch, dass sie in einem Strudel der Leidenschaft zu versinken drohten und Angst vor ihren eigenen Gefühlen bekamen. Nur widerwillig lösten sie ihre Lippen voneinander, lagen sich nur in den Armen und genossen die Nähe des anderen. Sie spürte seine festen Hände auf ihrem Rücken, stellte sich vor, wie es sein würde, wenn sie das erste Mal wie Mann und Frau beieinanderlagen, und lächelte dabei versonnen. Nie hätte sie geglaubt, sich einmal so zu einem Mann hingezogen zu fühlen. Sie kam sich schwach und zugleich stark vor, glaubte, etwas zu spüren, das noch keine andere Frau vor ihr empfunden hatte. Stärker als Liebe, stärker als die Leidenschaft des Paares, von dem ein Sänger auf dem Marktplatz erzählt hatte.
»Du hast mich eine Scheibe Brot gekostet«, sagte Molly fröhlich.
»Meinst du, ich habe weniger bezahlt?« Bryan lachte.
Sie blickte ihm in die Augen und war erstaunt, das helle Blau selbst in dem düsteren Halbdunkel erkennen zu können. Sie strich ihm mit einer Hand zärtlich über die Wange und schenkte ihm ein sanftes Lächeln. »Geht es dir gut?«
Er grinste wieder. »Ich lebe noch ... das ist doch was.«
»Ist der Master ... streng?«
Sein Grinsen verschwand so schnell, wie es gekommen war. »Er ist ein Drecksack, der größte Drecksack, der mir jemals untergekommen ist. Führt sich auf wie ein Sergeant, der einen Trupp Rekruten zur Räson bringen will. Schikaniert uns, wo er kann. Mich wollte er gleich am ersten Tag ins Loch werfen. So nennen sie den Kerker, ein eiskaltes Felsenloch, in dem man es keine drei Tage aushalten würde. Kurz vor dem Erfrieren holen sie einen raus, und wenn du Pech hast, bekommst du dann noch eine Tracht Prügel.«
Molly erschauderte. »Unsere Hausmutter ist genauso streng. Mir haben sie einen Tag nichts zu essen gegeben, weil ich den Mund nicht halten konnte.«
»Wir können wohl beide den Mund nicht halten. Ich hab ihn einen verdammten Menschenschinder genannt, als er einen von diesen Schwächlingen aus der Stadt fertigmachen wollte, und wenn mich meine Nachbarn nicht zurückgehalten hätten, wäre ich tatsächlich im Loch gelandet. So musste ich Steine klopfen, den ganzen Tag lang, und als ich immer noch keine Ruhe gab, wurde ich auf die Krankenstation versetzt. Dort muss ich die Leichen vergraben. Kein Zuckerschlecken bei dem harten Boden.« Seine Miene war ernst geworden. »Weißt du, wie viele Leute hier jeden Tag sterben? Gestern waren es sieben. Wenn das so weitergeht, haben sie bald nur noch freie Strohlager.«
»Uns wirft nichts um, Bryan.« Sie nahm sein Gesicht in beide Hände. »Wir halten bis zum Frühjahr durch, dann fahren wir nach Amerika.« Sie schloss die Augen und küsste ihn zärtlich auf den Mund. »Stimmt’s, Blue Eyes?«
»Darauf kannst du wetten, Little Red.« Seine Stimme klang rau.
Sie hielten sich eine Weile
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