Am Ufer der Traeume
Augenblick in der offenen Tür, sah sie bei der Mauer stehen und kam zielstrebig auf sie zu. Ihre strenge Miene verhieß nichts Gutes. »Rose Campbell?«, wandte sie sich an die Mutter. »Du arbeitest ab sofort in der Nähstube bei deinen Töchtern.«
Molly strahlte. »Das ist ja wunderbar!«
»Dich hat niemand nach deiner Meinung gefragt!« Die Hausmutter bedachte sie einmal mehr mit einem strafenden Blick und wandte sich an ihre Schwester, musterte sie in einer seltsamen Mischung aus Ärger, Neid und mühsam unterdrückter Wut. Ihre Lippen bildeten einen schmalen Strich. »Fanny Campbell ...«
»Ma’am?« Fanny errötete leicht.
Die Hausmutter schien sie beschimpfen zu wollen, setzte bereits zu einem Wortschwall an und brach noch vor dem ersten Wort ab. Stattdessen sagte sie: »Du hilfst deiner Mutter beim Einarbeiten. Mrs. Morris weiß Bescheid.«
»Ja, Ma’am.«
»Fühl dich nicht zu sicher, verstanden?«
Fanny spielte die Ahnungslose. »Ich weiß nicht, was Sie meinen, Ma’am.«
»Du weißt sehr wohl, was ich meine.« Was sie sonst noch sagte, ging im Läuten der Arbeitshaus-Glocke unter. Die Mittagspause war vorüber. »An die Arbeit!«, trieb die Hausmutter die Frauen an. »Keine Müdigkeit vortäuschen.«
Nervös kehrte Molly mit Fanny und ihrer Mutter ins Haus zurück. Sie brauchte ihrer Schwester nicht einmal ins Gesicht zu blicken, um zu wissen, was den wundersamen Stimmungsumschwung der Hausmutter bewirkt hatte.
Fanny hatte die Vergünstigungen mit ihrem Körper erkauft. Vielleicht nur mit einem Lächeln, als sie sein Büro aufgeräumt hatte, oder indem sie ihm gestattet hatte, ihr über den Kopf oder ihre Wange zu streicheln. Vielleicht aber auch mit wesentlich mehr. Molly wollte es sich gar nicht ausmalen. Die Vorstellung, ihre Schwester in den Armen eines lüsternen alten Mannes zu wissen, bereitete ihr fast körperliche Schmerzen. Sie sagte jedoch nichts. Die Erleichterung in den Augen ihrer Mutter war zu groß. Was immer Fanny getan hatte, vielleicht hatte sie ihrer Mutter durch diese Tat das Leben gerettet.
In der Nähstube durfte Rose Campbell neben dem Ofen sitzen. Die Wärme war Balsam für ihren Körper und ihre Seele und würde alle Krankheitskeime vertreiben. Als erfahrene Farmersfrau, die einen großen Teil ihrer Winterabende beim Nähen verbracht hatte, brauchte sie nicht lange, um sich an die Arbeit zu gewöhnen. In der Nähstube des Arbeitshauses wurden keine Wunderdinge erwartet. Nachdem sie ihre Hände aufgewärmt hatte, arbeitete sie sauber und schnell und überraschte sogar die im Nähen geübte Aufseherin.
Nur einmal, als sie sich unbeobachtet glaubte, bemerkte Molly, wie sie Fanny einen zweifelnden Blick zuwarf und sich wohl dieselbe Frage stellte wie sie: Was hatte Fanny getan, um ihnen diese Vorteile zu verschaffen?
Erst recht, als sie beim Abendessen einige Fleischbrocken in ihrer Suppe bemerkte und der Kräutertee wesentlich stärker als am Vorabend zu sein schien. Auch Molly und Fanny bekamen besseres Essen. Sie genossen jeden Löffel der fetten Suppe und jeden Bissen des ungewöhnlich frischen Brotes.
Ihre zufriedenen Mienen verdüsterten sich erst, als die Hausmutter vor ihnen stehen blieb, sie lange musterte und sagte: »Seht euch bloß vor, Campbells!«
10
Auch am nächsten Tag durften sich Molly, Fanny und ihre Mutter über zahlreiche Vergünstigungen freuen. Ihre Suppe war kräftiger und es schwammen sogar Fleischstücke darin, ihr Brot frischer, der Kräutertee stärker und auf ihre Strohlager hatte man frische Decken gelegt. Ein Segen für Rose Campbell, die zusehends an Kraft und Energie gewann und auf dem besten Wege war, die drohende Erkältung abzuwenden.
Die anderen Frauen merkten nicht, dass man sie bevorzugte, wurden nicht einmal misstrauisch, als Fanny auch am zweiten Morgen vom Master in sein Büro gerufen wurde. Die Erklärung, dass sie dort aufräumen und putzen musste, reichte ihnen. Die meisten waren viel zu schwach und erschöpft, um über so etwas nachzudenken. Während des Mittagessens machte das Gerücht die Runde, dass eine Bewohnerin, die erst vor wenigen Tagen mit Schwarzem Fieber in die Krankenstation eingeliefert worden war, auf dem Leichenwagen lag, und viele Frauen bekamen Angst, sie könnte zu spät zum Arzt gegangen sein und sie angesteckt haben. Dagegen verblassten alle anderen Probleme.
Dennoch fühlten sich Molly und Fanny schuldig. Sie freuten sich für ihre Mutter, die ohne diese Vergünstigungen vielleicht gestorben
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