Am Ufer der Traeume
Körper und kämpfte vergeblich dagegen an.
Ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit. Es gab kein Fenster und nicht mal durch den Türspalt fiel etwas Licht herein. Sie lehnte sich zitternd gegen die Wand. Wie sollte sie die Nacht in diesem Loch jemals überstehen? Die Nacht, den folgenden Tag und wieder eine Nacht? Ohne etwas zu essen und einen wärmenden Tee? Sie würde vollkommen durchgefroren und geschwächt aus ihrem Verlies herauskommen und konnte von Glück sagen, wenn sie dann noch am Leben war. Einen geeigneteren Ort, um sich eine Krankheit einzufangen, gab es nicht.
Und sie hatte geglaubt, das Schlimmste schon überstanden zu haben. Das Gegenteil war der Fall. Auch vor den Toren des Arbeitshauses machte die Panik, die ganz Irland nach der zweiten Kartoffelfäule erfasst hatte, nicht halt. Die Vorräte waren knapp, nicht mal die schwachen Bewohnerinnen bekamen genug zu essen, und wenn die Regierung nicht einschritt, würde man auch bald den Kindern die Rationen kürzen. Der skrupellose Master nutzte die Not der Bewohnerinnen aus und lockte verführerisch aussehende Frauen wie Fanny gegen Versprechungen in sein Büro, und die Hausmutter, die es aus einem unerfindlichen Grund auf sie abgesehen hatte, ließ ihren Hass auf die Welt und sich selbst an Frauen wie ihr aus. Man erzählte sich, dass sie ihre ganze Familie nach der ersten Kartoffelfäule verloren hatte, ihren kranken Mann und sieben Kinder, weil sie kein Geld für den Mais aus Amerika besessen hatten, und dass sie Frauen, die genauso arm waren wie sie damals, ebenfalls nicht gönnte, die Hungersnot zu überleben. Das Gerücht hielt sich hartnäckig.
Als Molly ein leises Scharren hörte, zog sie ängstlich die Beine an. Sie bildete sich bereits ein, die schmalen gelben Augen einer fetten Ratte zu sehen, doch das Scharren wiederholte sich nicht und sie entspannte sich allmählich. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Aus der Zuversicht, die sie noch vor einer Stunde erfüllt hatte, war tiefe Niedergeschlagenheit geworden. Aus der Freude über die Vergünstigungen und die rasche Genesung ihrer Mutter die Befürchtung, dass man auch sie für das Vergehen ihrer Tochter bestrafen würde. Der Gedanke, dass man sie in die Waschküche zurückversetzen könnte, war ihr unerträglich. Eher würde sie drei Tage in diesem Loch durchhalten.
Sie schloss die Augen und lauschte der quälenden Stille. Die massiven Wände hielten jedes Geräusch ab und selbst durch die schwere Holztür drang kein Laut. Sie war so allein wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Nur der Gedanke an Bryan, seine hellblauen Augen, seine sanfte, etwas heisere Stimme, seine warmen und festen Hände hielt sie aufrecht. In Gedanken küsste sie ihn immer wieder, spürte sie noch einmal seine Lippen, empfand sie dieses wunderbare Gefühl, das einen hoch in die Lüfte zu heben schien. Sie konnte nur hoffen, dass er unentdeckt in seinen Schlafsaal zurückgekommen war. Wenn herauskam, dass sie sich heimlich getroffen hatten, würde man sie noch härter bestrafen und Bryan landete wahrscheinlich für eine Woche im Loch.
Mit dem Gedanken an sein Lächeln nickte sie ein. Für einen Augenblick lag sogar ein Lächeln auf ihrem Gesicht und sie wirkte so glücklich und entspannt wie in seinen Armen. Doch die Kälte ließ sie nicht schlafen. Alle paar Minuten schreckte sie hoch, das Gesicht taub wie nach dem langen Marsch durch den Schnee, die Hände und die nackten Füße so eisig kalt, dass sie schon befürchtete, ihre Finger und Zehen wären erfroren. Sie stemmte sich ächzend vom Boden hoch. Gegen die Wand gestützt wartete sie, bis sie wieder halbwegs stehen konnte, bewegte Beine und Arme und lief gebückt auf der Stelle, bis das Blut einigermaßen zirkulierte und etwas Wärme in ihre Gliedmaßen zurückkehrte. Die Hausmutter würde sie nicht kleinkriegen!
Irgendwann erklangen Schritte im Flur und durch den Türspalt war das flackernde Licht einer Laterne zu sehen. Der Schlüssel drehte sich im Schloss und der Riegel wurde zur Seite geschoben. Die Tür schwang nach innen. Molly kniff die Augen zusammen, bis sie sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatte, und erschrak, als sie die strenge Miene der Hausmutter erkannte. Wollte sie nach ihr sehen, sich an ihrem Leid erfreuen? Hatte sie sich eine neue Strafe ausgedacht und wartete noch viel Schlimmeres auf sie?
»Mitkommen!«, befahl die Hausmutter barsch.
Molly folgte ihr die Wendeltreppe hinauf. Sie musste sich mit beiden Händen
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