Am Ufer der Traeume
kräftigen Durchfall und Bauchschmerzen.«
»Es geht ihm nicht gut, Pater. Ich befürchte, er hat die Cholera. Ich frage mich, wie lange ich in der Nähe dieser Schwerkranken bleiben kann, bis ich mich selbst anstecke. Die Cholera ist eine ganz schreckliche Krankheit.«
»Der Herr breitet seine schützenden Hände über Sie, Schwester. Betrachten Sie Ihre schwere und aufopfernde Arbeit als Prüfung, als eine Vorbereitung auf die Gnade, die Sie im ewigen Himmelreich erfahren werden.«
»Amen«, erwiderte sie leise.
In ihrem Versteck hörten Molly und Bryan, wie sich die Schritte entfernten und schließlich ganz verstummten. Bryan atmete befreit auf. Molly klammerte sich fest an ihn und drückte ihre feuchten Augen gegen seine Uniform.
Als sie den Kopf hob, sah Bryan die Tränen in ihren Augen. »Was ist mit dir, Little Red?«, fragte er. »Du weinst ja ... wegen der kranken Kinder?«
»Wegen Timmy. Ich kenne seine Mutter. Sie hat schon zwei Kinder verloren und hat große Angst um ihren Sohn. Er ist erst sieben. Ich weiß nicht, was sie tun wird, wenn er tatsächlich stirbt. Sie ist jetzt schon von Sinnen und kann kaum noch richtig schlafen.«
»Ich habe Timmy gesehen. Er sieht sehr krank aus.«
Sie wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Dann müssen wir etwas tun, Bryan. Du musst etwas tun. Du siehst den Pfarrer und die Schwester doch jeden Tag, wenn du ... wenn du die Toten begräbst. Sag ihm, dass Bridget ihren Sohn unbedingt noch einmal sehen will. Dass sie ihn sehen muss!«
»Ich versuche es.«
»Versprich es mir!«
»Ich verspreche es, Little Red.« Er nahm sie wieder in den Arm und küsste ihr die Tränen von den Augen und den Wangen. Dann drückte er sie fest an sich. »Und jetzt gib mir noch einen Kuss, damit ich ruhig schlafen kann.«
Ihr Kuss fiel verhaltener, aber auch zärtlicher aus. Als wollten sie das Andenken der vielen Toten und der kranken Kinder nicht mit ihrer Leidenschaft stören. So derb und laut Bryan manchmal sein konnte, so sanft und gefühlvoll benahm er sich, wenn es die Situation erforderte. Als er ihr zum Abschied sachte übers Haar strich, fühlte sie ein angenehmes Prickeln auf ihrer Haut.
»Nächsten Montag wieder um Mitternacht?«, fragte er.
»Falls du nicht im Kerker schmorst.« Sie konnte wieder lachen.
»Oder du.«
»Oder ich.«
Sie küsste Bryan noch einmal, wartete geduldig, bis er die Tür geöffnet hatte, und lief durch die dunkle Eingangshalle in den Speisesaal der Frauen. Auf Zehenspitzen schlich sie die Wendeltreppe zum Schlafsaal empor. Den flackernden Lichtschein einer Laterne sah sie erst, als die Hausmutter unmittelbar vor ihr stand. Wie zu Stein erstarrt, blieb sie stehen. Vor lauter Schreck brachte sie nicht mal ein verzweifeltes Stöhnen oder Seufzen hervor.
»Sieh an«, sagte die Hausmutter schadenfroh. »Wen haben wir denn da?«
11
Das »Loch«, wie jeder im Arbeitshaus den Kerker nannte, war eine dunkle Zelle im Keller des Hauptgebäudes, gerade mal so groß, dass man nur gekrümmt darin liegen, und so niedrig, dass selbst Molly nicht aufrecht darin stehen konnte. An einem Ohr hatte die Hausmutter sie in den Keller hinuntergeschleift und unsanft in die Zelle gestoßen. »Übermorgen sehen wir uns wieder«, sagte sie, »das wird dir Zeit geben, über deinen nächtlichen Ausflug nachzudenken! Und das Abendessen kannst du die ganze Woche vergessen!«
Die schwere Holztür fiel ins Schloss und Molly hörte, wie sich der Schlüssel drehte und der Riegel vorgeschoben wurde. Die Schritte der Hausmutter entfernten sich. Sie blieb in vollkommener Dunkelheit zurück, wie eine Gefangene, die man im Tower oder im Kerker einer alten Burg eingesperrt hatte, um sie am nächsten Morgen zum Galgen zu führen oder auf dem Scheiterhaufen verbrennen zu lassen. Es gab weder eine Öllampe noch eine Kerze, und bis auf einen Nachttopf, den man wohl bereitgestellt hatte, um später nicht säubern zu müssen, war die Zelle leer. Dennoch stank es erbärmlich.
Minutenlang verharrte sie bewegungslos in der Dunkelheit, den Körper nach vorn geneigt, weil sie sonst mit dem Kopf an die Decke gestoßen wäre, und so geschockt von ihrer neuen Umgebung, dass sie für einen Augenblick zu atmen vergaß. Leise stöhnend sank sie auf den harten Boden. Ein Strohlager gab es nicht, auch keine Wolldecke, ihr blieb nur der nackte Stein. Eisige Kälte füllte den Raum, kroch unter ihr Uniformkleid und brachte sie nach wenigen Sekunden zum Zittern. Sie schlang die Arme um ihren
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