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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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aus seinem Mund.
    Im Speisesaal erwartete sie eine weitere Überraschung. In ihrer Suppe, die es auch an diesem Mittag wieder gab, schwammen Fleischbrocken und der heiße Tee war sogar mit Honig gesüßt. Die anderen Bewohnerinnen bekamen die übliche dünne Brühe und den schwachen Tee, der nicht viel besser als lauwarmes Wasser schmeckte. Obwohl ihre Nachbarinnen gar nicht merkten, dass sich ihr Essen unterschied, fühlte sich Molly schuldig, erst recht, als sie in Bridgets bekümmertes Gesicht blickte. Die junge Mutter stocherte mit verweinten Augen in ihrer Suppe herum und nahm ihre Umgebung kaum wahr.
    Bridget wusste nicht, dass ihr kleiner Sohn an der Cholera erkrankt war. Niemand hatte ihr gesagt, was mit ihm los war, und Bryan war es offenbar noch nicht gelungen, den Pfarrer oder die Schwester zu überreden, sich für sie einzusetzen, sonst wäre sie jetzt bestimmt nicht hier, sondern an der Seite ihres Sohnes, ganz egal, ob sie dabei Gefahr lief, sich selbst anzustecken. Warum brauchte Bryan so lange? Warum war er nicht gleich nach dem Frühstück zum Pfarrer oder der Schwester gelaufen? Oder hatte er es getan und sie weigerten sich, ihm zu helfen, oder der Master hatte noch nicht entschieden? Molly schob ihren Teller zu Bridget hinüber und tauschte auch die Teebecher. Zufrieden beobachtete sie, wie die junge Mutter von dem gesüßten Tee trank und sich mit einem Lächeln bei ihr bedankte. »Du musst stark sein«, sagte Molly zu ihr. »Du wirst Timmy wiedersehen.« Sie stellte sich vor, wie Bridget weinend vor ihrem toten Sohn zusammenbrach, und unterdrückte selbst nur mühsam die Tränen. »Denke immer daran, dass alles nach Gottes Willen geschieht. Sieh dir die anderen Mütter an. Du bist nicht die Einzige, die sich nach ihrem Kind sehnt.« Sie lächelte aufmunternd. »Besser?«
    »Besser«, antwortete Bridget flüsternd.
    Molly kam sich wie eine Verräterin vor, weil sie ihr nicht die Wahrheit sagte, hätte sich aber wie eine Hexe gefühlt, wenn sie es getan hätte. Noch bestand Hoffnung, dass Bryan etwas bei dem Pfarrer oder der Schwester erreichte, und wenn der Herrgott ein Einsehen hatte, wurde Timmy vielleicht sogar gesund. Sie hatte schon von Leuten gehört, die an der Cholera erkrankt und nach einigen Tagen wieder aufgestanden waren. Die Kinder bekamen besseres Essen. Er würde sich tapfer gegen die Krankheit wehren.
    Während der anschließenden Pause im Hof begann es leicht zu schneien. Dennoch drängten die Frauen nach draußen, und wenn es nur für ein paar Minuten war. Der Gestank im Schlafsaal war so groß und die Luft im Speisesaal so schlecht, dass sie froh waren, etwas frische Luft atmen zu können.
    Wieder einmal tauchte Ellen neben Molly auf. Sie hatte ihre langen Haare abgeschnitten und sah sich kaum noch ähnlich. »Sie haben dich erwischt, was? Musst dich ziemlich dämlich angestellt haben. Ich frag mich nur, warum sie dich so schnell wieder rausgelassen haben. Hattest du noch einen Penny in der Tasche? Hast du dafür bezahlt? Du hast der Hausmutter was zugesteckt, gib’s zu!« Sie kicherte. »Oder hast du’s der Alten unten im Keller ...«
    »Unsinn!«, unterbrach Molly sie schnell. »Ich hatte Glück.«
    »Hier hat keiner Glück.«
    »Geld hab ich jedenfalls nicht.«
    »Aber eine junge und knackige Schwester, was?«
    Molly blieb stehen und starrte sie entsetzt an.
    »Ich hab richtig geraten, was?« Ellen schien sich köstlich zu amüsieren. »Keine Angst, ich sag’s nicht weiter. Ist doch klar, dass ihr das eurer Mutter nicht auf die Nase binden wollt. Aber ich muss leider den Preis erhöhen.«
    »Für was?«
    »Na, für was wohl?« Ellen legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie senkte ihre Stimme. »Ihr wollt euch nächsten Montag wieder treffen, hab ich recht?«
    »Woher weißt du das?«
    »Spielt keine Rolle.« Ellens Ton wurde schärfer. »Ab morgen will ich deine Suppe. Ich hab gesehen, wie du sie mit dieser weinerlichen Bridget getauscht hast, also hast du bestimmt was Besseres auf dem Teller. Kannst meine dafür haben. Außerdem will ich zwei Scheiben Brot von dir.«
    »Das ist unverschämt«, beschwerte sich Molly. »Zwei Scheiben Brot, nicht mehr. Eigentlich bräuchte ich dir überhaupt nichts zu geben. Ich hab mich längst mit Bryan verabredet und brauche deine Hilfe nicht mehr, verstanden?«
    »Zwei Scheiben Brot und die Suppe, sonst hänge ich dich bei der Hausmutter hin. Wenn sie euch beide erwischen, nützt dir auch deine Schwester nichts mehr! Dann könnt ihr den

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