Am Ufer der Traeume
sicherer und kam auch schneller voran. Molly entspannte sich. Vielleicht war ihre Sorge übertrieben gewesen und Mary war tatsächlich nicht so krank, wie es den Anschein hatte. Ein junges Mädchen besaß stärkere Abwehrkräfte als sie oder ihre Schwester.
Umso größer war Mollys Entsetzen, als Mary plötzlich ihre Arbeit sinken ließ und zu weinen anfing. Alle Näherinnen sahen sich besorgt nach ihr um.
»Was soll denn das jetzt wieder?«, reagierte Martha Anderson so, wie man es von ihr erwarten konnte. In ihrem dunklen Kleid, das ihren schmächtigen Körper betonte, und mit dem zurückgekämmten Haar und dem strengen Knoten sah sie wie ein Racheengel aus. »Was ist mit dir los, Mary O’Shannon?«
»Ich ...« Sie schniefte. »Ich kann nicht mehr, Ma’am!«
»Du kannst nicht mehr? Was soll das heißen?«
Sie unterdrückte die Tränen und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. »Ich hab Halsschmerzen, Ma’am. Das Schlucken tut furchtbar weh ...«
»So, so, du hast Halsschmerzen!« Martha Anderson, die schon seit Tagen an demselben Kleidungsstück arbeitete und die meiste Zeit damit verbrachte, die Näherinnen zu beaufsichtigen, stand auf und blieb neben dem Mädchen stehen. Ihre spöttische Miene verhieß nichts Gutes. »Von einem irischen Mädchen hätte ich auch nichts anderes erwartet. Kaum weht draußen ein frisches Lüftchen, brechen sie zusammen.« Ihr Blick wurde streng. »Wir sind zum Arbeiten hier, Mary O’Shannon! Ich gebe dir genau fünf Sekunden, um mit dieser elenden Jammerei aufzuhören und weiterzuarbeiten. Fünf, vier, drei ...«
»Ich kann nicht, Ma’am! Mein Hals tut weh und mir ist so heiß ...«
»... zwei, eins! Das reicht, Mary O’Shannon! Pack deine Sachen und geh! Den Lohn für den halben Tag kannst du dir abschminken, und wenn du morgen früh nicht zur Arbeit erscheinst, kannst du ganz zu Hause bleiben. Für wehleidige Prinzesschen hat Mister Silverstein nichts übrig. Verschwinde!«
Molly konnte nicht länger an sich halten. »Aber Mary ist wirklich krank!«, sagte sie vorwurfsvoll. »Sie kann doch nichts dafür, wenn sie Halsweh und Fieber bekommt. Sie dürfen ihr den Lohn für heute Morgen nicht abziehen!«
»Das hab ich mir gedacht, dass du mit ihr unter einer Decke steckst!« Martha Anderson richtete ihren Blick auf Molly. »Was hast du mit ihr zu schaffen? Kommt ihr aus demselben Dorf? Oder willst du dich nur wichtigmachen? Ein Dollar Lohnabzug! Das wird dich hoffentlich lehren, dich in Zukunft nur um deine eigenen Sachen zu kümmern und den Mund zu halten.«
»Ein Dollar? Aber das ist ...«
»Jetzt sind es schon zwei!« Sie nahm Mary O’Shannon die Bluse ab und kehrte an ihren Platz zurück. »Und ihr anderen arbeitet gefälligst weiter, sonst muss ich euch allen den Lohn kürzen! Ich hoffe, ihr habt mich verstanden.«
»Ja, Ma’am«, antworteten die Näherinnen im Chor.
20
Am nächsten Morgen erschien Mary O’Shannon wieder in der Nähstube. Ihr Gesicht war rot vom Fieber und sie wirkte so krank und schwach, dass Molly sie beim Betreten der Nähstube stützen musste. »Um Gottes willen!«, erschrak Molly. »So hältst du keine fünf Minuten durch! Du gehörst ins Bett!«
Mary stand die Angst ins Gesicht geschrieben. »Du hast doch gehört, was Martha Anderson gesagt hat. Wenn ich heute nicht komme, kann ich ganz zu Hause bleiben.« Ihre Stimme klang heiser und belegt. »Ich schaffe das schon, Molly. Ich komme aus Cork, da sind die Menschen besonders zäh, sagt man.«
Martha Anderson empfing die Näherinnen ungeduldig. Sie hatte sich herausgeputzt, trug ein sorgfältig gebügeltes Kleid, das sie sonst nur sonntags für den Kirchgang herausholte, und hatte die Haare gewaschen. »Wo bleibt ihr denn?«, trieb sie die Näherinnen mit einem Blick auf die Wanduhr an. »Zwei Minuten vor acht. Wer um punkt acht nicht an seinem Platz sitzt, kann gleich wieder umkehren! Mister Silverstein bezahlt euch nicht fürs Faulenzen.«
Die Frauen und Mädchen setzten sich und griffen nach ihren Näharbeiten. Die Fenster waren klein und ließen nur wenig Licht herein und auch die beiden Gaslampen sorgten kaum für Helligkeit und erschwerten den Näherinnen die Arbeit. Von draußen drang das Schnaufen eines Dampfzugs der Hudson River Railroad herein, der über die Eleventh Avenue nach Norden fuhr.
»Alle mal herhören!«, überraschte sie die Aufseherin. »Heute ist ein ganz besonderer Tag. Wie ich gestern Abend erst erfuhr, kommt uns heute Mister Silverstein besuchen.
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