Am Ufer der Traeume
wusste, ein ehemaliger Sklave, den er freigekauft hatte.
Ohne zu klopfen betrat Mister Silverstein die Nähstube. Er trug maßgeschneiderte Hosen und einem Gehrock, der seine Körperfülle nur ungenügend verbarg. Sein Zylinder saß kerzengerade. Er schnaufte wie ein Walross und sah mit seinem buschigen Schnurrbart auch so aus, fiel vor allem aber durch seinen mächtigen Stiernacken auf. Sein rotes Gesicht verriet zu hohen Blutdruck.
»Guten Tag, Mister Silverstein!« Martha Anderson sprang regelrecht von ihrem Stuhl und begrüßte den Unternehmer mit einem artigen Knicks.
Silverstein blickte die Aufseherin nur an, hielt eine Begrüßung wohl für Zeitverschwendung und ließ sich das Auftragsbuch reichen. Mit geübtem Blick überflog er die Zahlen. »Das deckt sich mit den Angaben, die ich von meinem Buchhalter bekommen habe. Gerade noch über dem Mindestumsatz. Für die kommenden Monate werden wir die Anforderungen etwas erhöhen müssen. Die Konkurrenz ist groß. Glauben Sie, diesem Druck gewachsen zu sein?«
»Natürlich, Mister Silverstein.«
»Sie haben gesunde Arbeiterinnen, die mehr leisten können als bisher?« Silverstein blickte nur flüchtig vom Auftragsbuch hoch. »Wir sind nämlich gezwungen, die Arbeitszeit um eine Stunde täglich zu erhöhen. Bei gleichem Lohn, versteht sich. New York ist ein heiß umkämpfter Markt und wir müssen bis zum Äußersten gehen, um die nötigen Auftragszahlen zu schaffen.«
»Meine Näherinnen sind dazu bereit.«
Das stimmte natürlich nicht, aber die Frauen und Mädchen hatten keine andere Wahl. Wer sich gegen eine solche Anordnung wehrte, wurde gekündigt und noch am selben Tag durch eine andere Näherin ersetzt. Solange es so viele arbeitslose Einwanderer in New York gab wie jetzt, hatten Unternehmer wie Silverstein leichtes Spiel. Sie waren nur daran interessiert, möglichst großen Profit zu erwirtschaften. Das Wohl der Arbeiterinnen war ihnen egal.
Silverstein reichte ihr das Auftragsbuch zurück und ließ seinen Blick über die Näherinnen wandern. Vor allem die Mädchen zuckten darunter zusammen. Molly ließ sich nichts anmerken und arbeitete ruhig weiter, tat so, als würde ihr die Anwesenheit des Unternehmers nichts ausmachen. Sie kam sich wie auf einem Sklavenmarkt vor. Der Plantagenbesitzer sah sich die Sklavinnen an und überlegte, welche ihm am meisten nützen konnte. Sie hätte wetten können, dass er noch nicht einmal die Namen seiner Angestellten kannte.
Als sein Blick auf den freien Platz neben Molly fiel, hielt er inne. »Fehlt eine der Frauen? Sie wissen, dass ich mir einen Ausfall nicht leisten kann.«
»Mary O’Shannon. Sie ist krank. Ich habe sie nach Hause geschickt.«
»Und wie wollen Sie dann Ihr Pensum schaffen?«
»Ich hätte ihr sowieso gekündigt, Mister Silverstein«, erwiderte Martha Anderson rasch. »Ich nehme an, es gibt genügend junge Frauen, die sie ersetzen wollen. Ich hatte wirklich viel Geduld mit ihr, aber was sie sich in letzter Zeit erlaubt hat, spottet wirklich jeder Beschreibung. Ab morgen sind wir wieder vollzählig, Mister Silverstein, und ich verspreche Ihnen, dass wir unser Pensum übertreffen werden. Sie können sich auf mich verlassen, Sir.«
»Sie lügt!« Molly war ohne nachzudenken aufgesprungen und schleuderte die Worte wütend nach vorn. Sie erschrak mindestens genauso sehr wie alle anderen über ihren Ausbruch. »Mrs. Anderson lügt! Sie hatte überhaupt keine Geduld mit Mary O’Shannon. Obwohl Mary hohes Fieber hatte, drohte sie ihr mit der Kündigung, wenn sie nicht zur Arbeit käme. Und als sie heute kam, schickte sie die Arme nach Hause, weil sie Angst vor Ihnen hatte. Sie dürfen Mary nicht kündigen! Ihr Vater ist krank und ihre Familie braucht das Geld.«
»Wie heißt du?«, fragte Silverstein nach einer kurzen Pause.
»Molly Campbell. Sie haben mir mein Zimmer vermietet.«
»Richtig.« Silverstein wirkte unschlüssig, überlegte wohl, ob er Molly gleich oder erst nach einer Standpauke davonjagen sollte. Er schnaufte so stark, dass sein Schnurrbart zitterte. »Ich will dir was sagen, Molly. Ich bin Unternehmer und muss Profit machen, sonst gehe ich nämlich bankrott. Mitleid kann ich mir nicht leisten. Wenn deine Freundin ... wie heißt sie noch?«
»Mary. Mary O’Shannon.«
»... wenn diese Mary O’Shannon schlecht arbeitet und dann auch noch krank wird, hat sie eben Pech gehabt. Andere Mädchen brauchen auch Geld. Eine Nähstube ist kein Erholungsheim. Oder hast du eine bessere
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