Am Ufer der Traeume
Idee?«
Molly war richtig in Fahrt gekommen, verschonte weder sich selbst noch Martha Anderson. »Mrs. Anderson schikaniert uns, wo sie kann, Mister Silverstein! Sie hackt ständig auf uns herum und bestraft uns für Dinge, die wir gar nicht getan haben. Sie ist Engländerin, schon deshalb hasst sie uns.«
»Das ist nicht wahr!«, brauste Martha Anderson auf. »Ich bin ...«
Der Unternehmer brachte sie mit einer entschlossenen Handbewegung zum Schweigen. »Was würdest du denn tun, wenn du an ihrer Stelle wärst?«
»Ich würde für gute Stimmung sorgen und nicht ständig auf die Näherinnen losgehen. Die arbeiten doch viel mehr, wenn sie fair behandelt werden. Ich bin sicher, auf die Weise würden wir mehr Arbeit schaffen als bisher.«
Silverstein reagierte anders, als Molly erwartet hatte. Anstatt einen Tobsuchtsanfall zu bekommen und sie rauszuwerfen, lächelte er. »Das musst du mir beweisen, Molly. Warum tauschen du und Mrs. Anderson nicht die Plätze?«
Martha Anderson blickte ihn entsetzt an.
»Sie wollen mich zur Aufseherin machen?«, fragte Molly verwirrt. Mit so einem Vorschlag hatte sie nicht gerechnet. »Ich möchte niemandem den Posten wegnehmen, Mister Silverstein. Ich bin schon zufrieden, wenn Mary O’Shannon wiederkommen darf und Mrs. Anderson uns etwas fairer behandelt.«
Silverstein hatte sich längst entschieden. »Eine Woche. Wenn die Produktion steigt, darfst du den Posten behalten. Wenn nicht, kehrt Mrs. Anderson auf ihren Stuhl zurück. Und danke dem Herrgott, dass ich heute zu Experimenten aufgelegt bin, sonst wärst du nämlich längst auf dem Heimweg.«
Nur widerwillig tauschte Molly ihren Platz mit der Aufseherin. Martha Anderson wäre am liebsten mit einer Schere auf sie losgegangen, beherrschte sich aber und unternahm nichts. Nur mühsam unterdrückten die Näherinnen ein schadenfrohes Grinsen. Der Unternehmer verabschiedete sich zufrieden und glaubte wahrscheinlich, ein gelungenes Experiment gestartet zu haben. Es war immerhin möglich, dass Molly recht behielt, und wenn nicht, würde er sie feuern und alles wäre wie bisher. Er konnte bei der Sache nicht verlieren.
Molly merkte noch am selben Nachmittag, dass sie einen Fehler begangen hatte. Sie brachte es einfach nicht übers Herz, einer Näherin den Lohn zu kürzen, wenn sie gegen die Regeln verstieß, und verschonte sogar Martha Anderson, als die in ihrer Wut zu fluchen begann und sie mit Schimpfwörtern belegte, die ihr die Schamesröte ins Gesicht trieben. »Mrs. Anderson!« Sie benutzte immer noch die respektvolle Anrede, konnte sich nicht an ein einfaches »Martha« gewöhnen. »Ich weiß nicht, warum Sie mich so beschimpfen. Ich hatte es nicht darauf angelegt, Sie als Aufseherin abzulösen, und ich bin freundlicher zu Ihnen, als Sie es jemals zu uns gewesen sind. Mir ist es egal, ob Sie aus England, Russland oder sonst woher kommen, und ich hege keinen Hass gegen Sie. Ich versuche lediglich wie jede andere hier, über die Runden zu kommen. Also arbeiten Sie gefälligst so, wie Sie es immer von uns verlangt haben, sonst verlieren Sie noch mehr als Ihren Posten. Mrs. Anderson?«
»Ja, Ma’am ... verdammt!«
Fanny war begeistert, als Molly ihr von der Beförderung erzählte. Sie fiel ihr um den Hals und jubelte: »Endlich geht es aufwärts mit dir! Ich hatte schon Angst, du wolltest ewig eine graue Maus bleiben. Schau mich an! Mit der Tanzerei verdiene ich zehnmal ... doppelt so viel wie mit der Näherei.«
»Ich hab keine Lohnerhöhung bekommen, Fanny.«
»Die kriegst du aber. Sobald die Woche rum ist und unserem Vermieter klar wird, dass du ihm mehr Profit bringst. Und wenn nicht, musst du sie verlangen. Geh ihm ein bisschen um den Bart, dann fühlt er sich geschmeichelt.«
Doch Molly fühlte sich zusehends unwohler auf ihrem Posten und freute sich nur, als Mary O’Shannon ihre Krankheit überwunden hatte und auf ihren Platz zurückkehrte. Molly ließ ihr sogar den Lohn für die drei Tage, die sie gefehlt hatte, auszahlen, ohne daran zu denken, dass sich diese Ausgabe belastend auf ihren Umsatz auswirken würde. Nur weil ihre Kolleginnen jetzt eifriger bei der Sache waren und viel schneller arbeiteten, blieb sie im Plus.
Selbst Martha Anderson, die lediglich »Dienst nach Vorschrift« leistete, konnte nicht verhindern, dass Molly besser abschloss als sie. Entsprechend missmutig verharrte sie auf ihrem Platz, als Silverstein pünktlich nach einer Woche zurückkehrte. Er hatte bereits mit seinem Buchhalter
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