Am Ufer der Traeume
falschen Lächeln und einem unterwürfigen Knicks, bevor sie sich neben Molly an den langen Arbeitstisch setzte und das Kleid aufnahm, an dem sie gerade arbeitete. Aber man sah ihr an, dass sie krank war, und als sie sich nach wenigen Minuten in den Finger stach, wurde auch die Aufseherin auf sie aufmerksam. »Kannst du nicht aufpassen, Mary O’Shannon?«, rief sie vorwurfsvoll. Weil es drei Marys gab, nannte sie alle drei mit vollem Namen. »Wenn du nicht weißt, wie man eine Nadel hält, bleibst du wohl besser zu Hause!«
»Entschuldigung, Ma’am! Nur ein Versehen!«
»Noch so ein Versehen ...«, sie dehnte das Wort spöttisch, »... und ich schicke dich nach Hause. Da draußen stehen hundert andere Mädchen, die sich die Finger nach deiner Arbeit lecken. Also reiß dich gefälligst zusammen!«
»Ja, Ma’am. Natürlich, Ma’am.«
Mary fuhr angestrengt mit ihrer Arbeit fort. Sie tat sich schwer, schluckte alle paar Minuten mit schmerzverzerrtem Gesicht und schien den Tränen nahe. Als sie sich erneut in den Finger stach, unterdrückte sie tapfer einen Schrei und tat so, als wäre nichts geschehen. Molly beobachtete sie verstohlen und bemerkte, wie ein Blutstropfen auf den Stoff geriet, versuchte, sie mit einem Blick darauf hinzuweisen, erreichte sie jedoch nicht. Mary war viel zu sehr in ihre trüben Gedanken vertieft. In ihren blauen Augen standen Tränen.
Wie jeden Tag vor der Mittagspause ging Martha Anderson auch diesmal von einer Näherin zur anderen und überprüfte, ob sie ihr Pensum erfüllt hatte. Molly hatte rasch gearbeitet, war bereits dabei, die Knöpfe an eine Bluse zu nähen und tauschte ihr Kleidungsstück mit einer flinken Bewegung gegen das ihrer Nachbarin aus. Mary erschrak und blickte sie aus großen Augen an. Molly hatte Glück. Die Aufseherin blieb diesmal ungewöhnlich lange bei einer jungen Näherin stehen, die ihre Stiche nicht regelmäßig gesetzt hatte, und ermöglichte es Molly, so lange an Marys Kleid zu arbeiten, dass es kaum einen Grund zur Klage gab. Dennoch schimpfte Martha Anderson: »Geht das nicht schneller?« Zum Glück sah sie den Blutfleck nicht. »Wenn das Kleid bis heute Abend nicht fertig ist, bleibst du zwei Stunden länger, verstanden?«
»Natürlich, Ma’am.«
Die Aufseherin blieb vor Mary O’Shannon stehen, griff nach der fast fertigen Bluse und betrachtete sie eingehend. Sie hatte wohl vorgehabt, dem Mädchen eine Abreibung zu verpassen, und wirkte enttäuscht, aber auch ein wenig misstrauisch. Ein kritischer Blick auf Molly und ihr Kleid verriet, dass sie mit ihrem Verdacht auf der richtigen Spur war. Widerwillig legte sie die Bluse zurück. »Du sitzt nach der Mittagspause neben Mary Glassner«, sagte sie zu Mary O’Shannon. Mary Glassner saß auf der anderen Seite des Tisches.
Während der Mittagspause, die sie im Hinterhof verbrachten, zog Molly das Mädchen beiseite. »Warum sagst du Martha Anderson nicht, dass du krank bist?« Sie legte eine Hand auf ihre Stirn. »Du hast Fieber. Geh nach Hause und leg dich ein paar Tage ins Bett, so kannst du doch nicht arbeiten!«
»Ich muss aber«, erwiderte Mary O’Shannon. Sie blickte sich verstohlen um, aus Angst, ihr könnte noch jemand zuhören. »Wir brauchen das Geld. Ohne meinen Verdienst haben wir kaum genug Geld für die Miete.« Sie schluckte. »Das Bein meines Vaters hat sich entzündet und wir wissen nicht, ob er jemals wieder arbeiten kann. Ich darf nicht zu Hause bleiben, Molly!«
»Ich werde mit Martha Anderson reden.«
»Damit sie dich rauswerfen?« Sie schüttelte den Kopf. »Lieber nicht, Molly. Ich schaffe das schon. Sind doch nur noch ein paar Stunden und morgen geht es mir bestimmt schon besser. Viel trinken, hat meine Mutter gesagt.«
»Ich könnte dir ein bisschen Geld leihen.«
Mary O’Shannon lächelte schwach. »Das ist lieb gemeint, Molly. Wirklich ... ich weiß das zu schätzen. Aber wenn ich zu Hause bleibe, stellen sie mich bestimmt nicht mehr ein und dann bleibt uns nur noch das Armenhaus.«
Molly hatte von den Armenhäusern in New York und Umgebung gehört. Gegen diese Einrichtungen sollten die irischen Arbeitshäuser wahre Erholungsheime sein. In Amerika machte man keine Unterschiede zwischen Armen, Geisteskranken und Verbrechern. Auch ein Grund dafür, warum so viele Arme lieber auf der Straße lebten, als sich in einem dieser Häuser zu melden.
Der Nachmittag begann vielversprechend. Mary O’Shan-non schien es tatsächlich besser zu gehen und sie arbeitete jetzt
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