Am Ufer der Traeume
Ihr wisst, was das bedeutet. Wenn er feststellen sollte, dass wir langsamer und weniger produktiv als die Näherinnen in seinen anderen Betrieben arbeiten, wird er sich gezwungen sehen, einige von euch zu feuern und durch neue Arbeitskräfte zu ersetzen. Also strengt euch gefälligst an! Arbeitet zügig und sorgfältig, sprecht nicht mit euren Nachbarn und antwortet höflich und knapp, wenn er euch eine Frage stellt. Diejenigen, die das Glück haben, schon länger für ihn arbeiten zu dürfen, wissen sicher, was auf dem Spiel steht.« Sie blickte in die Runde. »Haben das alle verstanden?«
»Ja, Ma’am.«
Molly arbeitete seit fünf Jahren in der Nähstube und wusste genau, was ihnen bevorstand. Jedes Mal, wenn Mister Silverstein die Nähstube besucht hatte, war am nächsten Tag der Lohn gekürzt oder jemand entlassen worden. Er kam nur einmal im Jahr, meist unangemeldet wie jetzt, wechselte ein paar Worte mit der Aufseherin und sah den Näherinnen auf die Finger, war aber vor allem an den Auftragsbüchern und Umsatzzahlen interessiert. Er besaß noch etliche andere Firmen und gehörte zu den reichsten Männern der Stadt.
»Er wird mich feuern«, sagte Mary.
»Unsinn«, erwiderte Molly.
Doch je länger sie ihre Nachbarin beobachtete und erkannte, dass sie viel zu krank und erschöpft war, um anständige Arbeit abliefern zu können, desto stärker wurde ihr bewusst, dass Marys Befürchtung nicht ganz unbegründet war. Wenn Mister Silverstein einer Näherin kündigen wollte, würde er Martha Anderson fragen, und die würde ihm Marys Namen nennen. Auch ohne ihre Krankheit stand sie an oberster Stelle auf ihrer Liste. Die Aufseherin hatte die etwas wehleidige junge Irin nie leiden können und wartete nur auf eine Gelegenheit, sie loszuwerden. Warum, wusste niemand zu sagen. Molly nahm an, dass Mary O’Shannon sie an ihre eigene Kindheit in Liverpool erinnerte.
Wie recht sie mit ihrer Befürchtung hatte, stellte sich schon zwei Stunden später heraus, als Mary entkräftet ihr Nähzeug fallen ließ und leise zu weinen begann. Molly musste sie festhalten, so erschöpft war sie. Ihre Stirn brannte.
»Sie hat hohes Fieber«, sagte Molly. »Sie gehört ins Bett.«
»Und warum bleibt sie dann nicht zu Hause?«
»Weil Sie ihr gedroht haben, sie rauszuwerfen, wenn sie heute nicht zur Arbeit erscheint.« Molly beherrschte sich nicht länger. »Als ob es was ausmachen würde, wenn sie zwei oder drei Tage zu Hause bleibt. Wir schaffen unser Pensum auch so, und ich wette, einige wären sogar bereit, eine Stunde länger zu bleiben und Marys Arbeit zu übernehmen. Seien Sie nicht so herzlos, Ma’am! Sagen Sie ihr, dass sie wiederkommen kann, wenn sie ihre Krankheit auskuriert hat. Ihr Vater hat sich das Bein gebrochen und ihre Geschwister sind noch zu klein, um zu arbeiten. Sie braucht das Geld dringend!«
Martha Anderson war solche Widerrede nicht gewohnt und schluckte ein paarmal, bevor sie antwortete. »Ich kann mich nicht erinnern, dich nach deiner Meinung gefragt zu haben. Kümmere dich gefälligst um deine Angelegenheiten!« Sie wandte sich an Mary. »Mach, dass du nach Hause kommst!«
Mary schniefte. »Es geht schon wieder, Ma’am.«
»Du sollst nach Hause gehen, hab ich gesagt! Oder willst du, dass Mister Silverstein dich in dem Zustand sieht? Pack deine Sachen und verschwinde!«
»Sie dürfen mich nicht feuern, Ma’am! Ich ...«
»Ich entscheide hier nicht, Mary. Das tut ganz allein Mister Silverstein, und was der sagt, wenn er dich hier heulend sitzen sieht, kannst du dir ja wohl ausmalen. Es ist nur zu deinem Besten, wenn du wieder nach Hause gehst.«
»Ja, Ma’am. Sicher, Ma’am.«
Molly bezweifelte, dass Martha Anderson auch nur einen Gedanken an das Wohl des Mädchens verschwendete. Ihr war nur daran gelegen, sie aus dem Weg zu haben, wenn Mister Silverstein die Firma inspizierte. Eine Mitarbeiterin, die vor lauter Jammern nicht zum Arbeiten kam, hätte auch ihr Minuspunkte eingebracht. Sie wollte so gut wie möglich vor dem Besitzer dastehen und ihren Posten behalten. Auch sie war nicht unkündbar. Eine Aufseherin, die ihre Näherinnen nicht im Griff hatte, würde Silverstein nicht dulden.
Weder Martha Anderson noch Molly waren jedoch auf das vorbereitet, was an diesem Nachmittag wirklich geschah. Es begann damit, dass sie hörten, wie eine Kutsche vor dem Haus hielt und die Stimme von Mister Silverstein erklang: »Geht das nicht ein bisschen schneller, James?« James war sein Diener, wie Molly
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