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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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stolzieren und teure Sachen einkaufen? Das ist doch langweilig.«
    »Besser als in einem dunklen Zimmer zu versauern, oder nicht?«
    Molly beneidete ihre Schwester nicht. Der Gedanke, sich nur wegen ein paar Dollars mit einem Mann abzugeben, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Auch ohne Bryan hätte sie Fanny niemals nachgeeifert. Die Hoffnung, mit ihm unter einem Dach zu wohnen und ihr ganzes Leben an seiner Seite zu verbringen, war selbst mit einer Million nicht aufzuwiegen. Wahre Liebe, so hatte sie während der letzten Monate erfahren, war ein kostbares Gut, für das es sich lohnte, ein Opfer zu bringen. Sie wäre auch bereit gewesen, zehn Jahre auf Bryan zu warten, wenn man ihr garantiert hätte, dass er dann auch wirklich kam. Im Augenblick wusste sie nicht einmal, ob er noch lebte.
    Das »verflixte sechste Jahr« würde Molly ihr letztes Jahr in New York einmal nennen. Eine gnädige Umschreibung für die zahlreichen Schicksalsschläge, die sie vor allem im Sommer hinnehmen musste. Es begann damit, dass Fanny jetzt öfter die ganze Nacht wegblieb, gleich nach der Arbeit eines ihrer neuen Kleider anzog, sich die Lippen schminkte, wie es sonst nur leichte Mädchen und Schauspielerinnen taten, und bis in die frühen Morgenstunden »feierte«, wie sie es nannte, was wohl bedeutete, dass sie jetzt auch mit anderen Männern ausging. Gegen eine üppige Bezahlung, wie Molly vermutete.
    »Und wann schläfst du?« Molly war manchmal schon beim Morgenkaffee angelangt, wenn Fanny nach Hause kam. »Das hältst du doch niemals durch.«
    »Vielleicht kündige ich ja bald«, erwiderte Fanny.
    Molly blickte sie verwundert an. »Und von was willst du leben? Von dem Trinkgeld, das du von den Männern ... dem Mann bekommst? Dem alten Knacker? Was ist, wenn er dich fallen lässt? Mister Silverstein stellt dich nicht mehr ein, wenn du einmal gekündigt hast. Überleg dir das noch mal.«
    »Lass mich nur machen, Schwesterherz.«
    Einen Monat später kündigte Fanny tatsächlich, und nur, weil sie ihre Miete zum Erstaunen von Mister Silverstein bis zum Ende des Jahres beglich, durfte sie in dem Zimmer wohnen bleiben. »Stell dir vor«, sagte sie zu Molly, »ich arbeite jetzt als Tänzerin in einem Lokal am Broadway. Da verdiene ich doppelt so viel. Die Arbeit bei dem alten Knacker habe ich aufgegeben. Über kurz oder lang wäre uns seine Frau sowieso auf die Schliche gekommen.«
    »Als Tänzerin? Aber das ist ...«
    »Unmoralisch?«
    »So ungefähr.« Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die spöttisch ihre Lippen verzog, blieb Molly todernst. »Ich wusste gar nicht, dass du tanzen kannst.«
    »Das kann doch jeder.«
    »Und wie willst du als Tänzerin einen reichen Mann finden?« Molly konnte es nicht fassen. »Edle Ritter auf weißen Pferden gibt es nur im Märchen.«
    »Ich weiß, was ich tue.«
    Der zweite Schicksalsschlag kündigte sich durch Mary O’Shannon an, das junge Mädchen aus Cork, das in der Nähstube neben ihr saß. Sie war höchstens vierzehn und erst vor wenigen Wochen mit ihren Eltern und zwei jüngeren Geschwistern nach Amerika gekommen. Nach der Ankunft waren sie einem ähnlichen »Agenten« wie Molly und Fanny auf den Leim gegangen und in anderthalb Zimmern gelandet, die selbst für zwei Bewohner zu klein gewesen wären. Zu allem Unglück hatte sich ihr Vater, der bereits Arbeit in einer Brauerei in Brooklyn gefunden hatte, das Bein gebrochen und lag seitdem tatenlos zu Hause im Bett, ohne zu wissen, ob ihn sein Arbeitgeber nach seiner Genesung noch nehmen würde. Ihre Mutter, die als Aushilfe in einem Krankenhaus arbeitete, und Mary mussten von ihrem kargen Verdienst die ganze Familie ernähren.
    Mary sprach nicht viel und sonderte sich selbst während der kurzen Mittagspause ab, doch Molly brauchte nur in ihre Augen zu blicken, um zu merken, wie sehr das Mädchen unter der Belastung litt. Molly versuchte, sie zu trösten, sagte ihr, dass der Vater bald wieder gesund sein würde. »Mach dir keine Sorgen! Ein starker Mann findet immer Arbeit. Im Hafen, auf einer Baustelle, als Arbeiter in einer Fabrik. Sie können nicht alle Arbeit den Deutschen und Italienern geben. In ein paar Wochen geht es euch wieder besser.«
    Doch das Gegenteil war der Fall. Das Bein ihres Vaters heilte langsamer als erwartet und sie selbst erschien eines Morgens mit starkem Halsweh in der Nähstube. Ihr Gesicht war vom Fieber gerötet. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und begrüßte Martha Anderson wie gewöhnlich mit einem

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