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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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zusammen mit den Ausgaben, die er für Schere, Nadel und Garn verlangte. Wie zahlreiche Unternehmer in New York war er ein skrupelloser Ausbeuter, der nur an seinem Profit interessiert war.
    In der Nähstube, einem düsteren Raum an der Eleventh Avenue, vertrat Martha Anderson seine Interessen, eine vom Leben enttäuschte Frau, die ihren Mann während der Überfahrt verloren hatte und diesen Verlust den Iren ankreidete, weil ihn angeblich ein irischer Passagier mit dem Schwarzen Fieber angesteckt hatte. In der Nähstube arbeiteten mehrere irische Frauen. Obwohl gerade sie besonders schnell und sorgfältig waren, hatte sie an jeder Arbeit etwas auszusetzen. Mal waren ihr die Stiche nicht gleichmäßig genug, mal entsprach das Kleidungsstück nicht dem vorgeschriebenen Schnitt. Und Näherinnen, die sich mit ihren Nachbarinnen während der Arbeit unterhielten oder aus sonst einem Grund trödelten, bekamen einen bestimmten Betrag von ihrem Lohn abgezogen. »Ihr Iren wart schon immer faul«, schimpfte die Engländerin. Oder: »Es wäre besser gewesen, ihr wärt damals alle verhungert!«
    Weil Molly und Fanny wussten, dass sie auch ihr Zimmer verlieren würden, wenn sie kündigten, verkniffen sie sich eine Antwort. Von den Kolleginnen, die schon länger in New York lebten, wussten sie, dass es schwer war, ein einigermaßen sauberes Zimmer zu einer vertretbaren Miete und eine Arbeitsstelle zu bekommen. »Die anderen Bonzen sind auch nicht besser.«
    Auch Fanny war immer noch allein. Die zwei Jahre, die sie sich gegeben hatte, um einen reichen Mann kennenzulernen, waren längst vorbei, und alle Versuche, ihren ärmlichen Verhältnissen zu entkommen, waren bisher gescheitert. Sie hatte sich bei mehreren Firmen beworben und war stets abgelehnt worden, weil sie Irin war, wie sie annahm, denn die Iren waren die am meisten verhassten Einwanderer in New York. Weil sie bereits über ein Viertel der Einwohner ausmachten und es täglich mehr wurden, sagte man. Irgendjemand hatte sogar behauptet, die Iren wären Teil einer Verschwörung, die der Papst gegen das protestantische Amerika im Schilde führte. »Die Iren sind schlimmer als die Nigger!«, schimpften einige Politiker der Stadt.
    Im dritten Jahr gelang es Fanny jedoch, eine annehmbare Stelle zu finden, die zwar keinen Ersatz für die Arbeit als Näherin bedeutete, ihr aber ein zusätzliches Einkommen verschaffte, das recht beachtlich sein musste, wie Molly an den teuren Stoffen erkannte, aus denen sich Fanny neue Kleider nähte. »Ich vertrete sonntags ein Hausmädchen bei einer reichen Familie«, erklärte sie, »und der Herr des Hauses steckt mir öfter ein Trinkgeld zu.« Wofür er dieses Trinkgeld bezahlte und ob es überhaupt eines war, verschwieg sie. Manchmal ging sie sogar an einem anderen Tag zu ihm und nahm die Geldstrafe, die sie für ihr Fehlen von Martha Anderson aufgebrummt bekam, billigend in Kauf. »Als Hausmädchen verdiene ich doppelt so viel wie in der Nähstube in einer Woche«, tönte sie.
    »Du machst doch unserer Familie keine Schande?«, fragte Molly.
    Fanny schüttelte lachend den Kopf. »Ich weiß, was du denkst. Du denkst, ich steige heimlich mit dem Mann ins Bett. So dumm bin ich nicht. Wenn du deine Zeit nicht damit vergeuden würdest, auf Bryan zu warten, und dich ein bisschen mehr mit anderen Männern beschäftigen würdest, wüsstest du längst, dass Männer nur großzügig sind, wenn man die Spannung aufrechterhält. Nur dann fließen die Dollars. Sobald sie dich als ihr Eigentum betrachten, kannst du froh sein, wenn du mal eine Kette oder einen Ring bekommst. Mach ihnen den Mund wässrig. Ein Lächeln hier, ein Küsschen da, und sie fressen dir aus der Hand. So leicht habe ich mein Geld noch nie verdient.«
    »Aber das ist ... das ist unmoralisch. Das gehört sich nicht.«
    »Ich tue nichts Verbotenes, Molly. Ich bin nur ein bisschen nett zu ihm. Wenn er mir dafür ein Trinkgeld gibt, ist er selbst schuld. Oder meinst du, ich würde einem alten Knacker wie ihm freiwillig um den Bart gehen? Er soll ruhig zahlen. Mit dem Geld kaufe ich mir hübsche Kleider und Rosenwasser. Erst dann kann ich mir einen Mann zum Heiraten suchen. Einen reichen Gentleman, der sich ernsthaft für mich interessiert, finde ich nur, wenn ich elegant angezogen bin und wie eine Lady dufte. Das ist mir inzwischen klar. Einem Dienstmädchen würde ein Gentleman niemals einen Antrag machen.«
    »Und wenn du erst verheiratet bist, was machst du dann? Über den Union Square

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