Am Ufer Des Styx
schien. »Ich weiß …«
Ein Diener öffnete die Tür, und sie traten hinaus auf die Straße, wo Friedrich Hingis bereits vor einer riesigen schwarzen Kutsche wartete, die mit dem goldumrahmten Emblem des Schwarzen Ritters gekennzeichnet war, dem Wappen der Familie Czerny. Gezogen wurde das Gefährt, dessen hoher, geschlossener Aufbau und schwere Ausführung den britischen Hackney-Kutschen vergleichbar war, von vier schwarzen Rossen, die ungeduldig mit den Hufen scharrten.
»Glauben Sie nicht, dass ich Wert auf diesen Prunk lege, meine Teure«, raunte die Gräfin Sarah zu, »aber wenn mir die Tradition des Adelsstandes schon zum Nachteil gereicht, so will ich andererseits wenigstens etwas davon haben.«
An der Logik dieser Argumentation ließ sich nicht rütteln, und so bestiegen Sarah und Ludmilla von Czerny das Gefährt über die kleine Treppe, die der Kutscher vor ihnen ausklappte. Das dunkel gehaltene Innere der Kutsche war mit bequemen, samtbeschlagenen Sitzen versehen, auf denen die Damen und Hingis Platz nahmen, wobei der Schweizer dem Gesetz der Höflichkeit folgend jene Bank besetzte, die gegen die Fahrtrichtung blickte. Schon im nächsten Moment fuhr die Kutsche an. Begleitet vom Klappern der Hufe, rollte sie an den Stadthäusern und Palästen vorbei die steile Straße zum Fluss hinab.
»Nun, Doktor?«, erkundigte sich Gräfin Czerny bei Hingis. »Sind Ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt gewesen?«
»Bedauerlicherweise nicht«, entgegnete dieser. »Dem Schmied, den ich konsultiert habe, ist es leider nicht gelungen, den Codicubus zu öffnen, ebenso wenig wie dem Schlosser und dem Entfesselungskünstler vom Varieté.«
»Das war zu erwarten«, sagte Sarah nur, die darüber nicht sonderlich überrascht war.
»Dennoch mussten wir es zumindest versuchen«, verteidigte Hingis seine fruchtlosen Bemühungen. »Die Informationen, die in dem Würfel verborgen sind, könnten uns möglicherweise ein gutes Stück weiterbringen.«
»Vielleicht«, räumte Sarah ein, »vielleicht auch nicht. Möglicherweise handelt es sich nur um ein weiteres Täuschungsmanöver.«
»Oder um einen weiteren Hinweis auf der Suche nach einem Heilmittel für Kamal«, wandte Hingis ein.
»Darf ich Ihnen meine Hilfe anbieten?«, erkundigte sich die Gräfin höflich. »Mein Mann hatte ausgezeichnete Verbindungen zu zahlreichen Gelehrten. Sicher ist einer darunter, der …«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Gräfin«, wehrte Sarah ab, »aber in diesem Fall kann uns niemand helfen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil es auf der ganzen Welt nur einen einzigen Ort gibt, an dem sich das Behältnis öffnen lässt – über einer dafür vorgesehenen Stele, die sich auf einer kleinen Insel im Mittelmeer befindet.«
»Sind Sie da auch ganz sicher?«
»Allerdings«, bestätigte Sarah.
»Ich verstehe«, erwiderte die Gräfin und schien angestrengt nachzudenken. »Vielleicht, wenn Sie mich das Artefakt einmal betrachten ließen …«
»Nein«, sagte Sarah entschieden und strenger, als sie es beabsichtigt hatte. »Verzeihen Sie, Gräfin«, fügte sie deshalb hinzu, als sie den irritierten Ausdruck im Gesicht ihrer Gastgeberin bemerkte, »es liegt mir fern, Ihnen zu misstrauen. Aber einen Codicubus zu besitzen, ist kein Privileg, sondern eine Bürde. Einige Menschen wurden seinetwegen grausam ermordet, andere sind daran fast zerbrochen. Je weniger Sie darüber wissen, desto besser ist es für Sie, glauben Sie mir.«
»Natürlich glaube ich Ihnen, werte Freundin«, versicherte die Gräfin, wobei ihren bleichen Zügen nicht zu entnehmen war, ob sie es tatsächlich so meinte. »Also wird Ihnen wohl kaum etwas anderes übrig bleiben, als die weite Reise zum Mittelmeer anzutreten, um den Behälter dort zu öffnen.«
»Dazu haben wir keine Zeit«, verneinte Sarah. »Dr. Cranston ist sich nicht sicher, was Kamals Zustand betrifft. Noch scheint er vergleichsweise stabil zu sein, aber dies kann sich jeden Tag ändern, zu jeder Stunde. Wir können es uns nicht leisten, die weite Reise auf uns zu nehmen und dabei wertvolle Zeit zu verlieren -und dann womöglich festzustellen, dass wir einer Täuschung erlegen sind. Lieber halte ich mich an das, was wir haben.«
»Ein guter Vorsatz«, erkannte die Gräfin nickend an, »und was haben wir bislang?«
»Wir werden sehen«, gab Sarah ausweichend zur Antwort.
Die Kutsche hatte inzwischen die Brücke überquert, deren beide Türme trutzig über den Ufern aufragten und sich in die tief hängenden Wolken zu
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