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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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schließlich in den nackten Steinboden krallte und eine riesige, von Brandwunden entstellte Gestalt sich wankend und schwerfällig erhob …

6.
    R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
    Früh am Morgen habe ich in der Nikolauskirche die Heilige Messe besucht, in der Hoffnung, dort etwas Trost und innere Ruhe zu finden – ohne Erfolg.
    Nur ungern gestehe ich es mir ein, aber die Ereignisse der vergangenen Nacht haben einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Nicht nur, weil wir gefangen wurden und unserem Häscher nur mit knapper Not entkommen konnten; nicht nur, weil ich tausend Ängste ausgestanden habe und noch auf Schritt und Tritt die Schreie des sterbenden Hünen höre – sondern auch, weil ich mich immerzu frage, ob ich den Informationen vertrauen kann, die er mir gab.
    In manchen Augenblicken bin ich geneigt, seinen Worten Glauben zu schenken, dann wieder überkommen mich Zweifel. Was, so frage ich mich, hat es auf sich mit jenen rätselhaften Geschichten von göttlichen Mysterien und kosmischen Geheimnissen? Ist dies der Schlüssel zur Lösung des Rätsels? Der Mosaikstein, der alles miteinander verbindet?
    Manches davon scheint – wenn auch auf merkwürdige Art und Weise – durchaus Sinn zu ergeben. Alexandria, die versunkene Bibliothek, Thots Schatten, das Feuer des Re … im Nachhinein betrachtet, scheint tatsächlich ein Zusammenhang zu bestehen. War ich, ohne es zu ahnen, dabei, die drei größten Geheimnisse der Menschheitsgeschichte zu entschlüsseln? Das Wesen des Kosmos selbst zu erforschen? Und hat – und dieser Gedanke erschreckt mich – auch schon mein Vater diesen Weg beschritten? Bin ich ihm unwissentlich auf diesem Pfad gefolgt, und war es das, was er mir zuletzt sagen wollte?
    Es sind dieselben Namen, die immer wiederkehren. Dieselben Persönlichkeiten der Geschichte, deren Schicksal untrennbar mit dem Einen Auge verbunden scheint.
    Alexander.
    Arsinoë.
    Ptolemaios.
    In welcher Beziehung standen sie zueinander? Was ist es, das sie alle miteinander verbindet und das ihre Schicksale einander ähnlich gemacht hat? Was ist die Wahrheit hinter all den Mythen, von denen der Zyklop mir berichtete? Wo liegt der Ursprung dieser seltsamen Menschen, die von der Schöpfung mit nur einem Auge bedacht wurden? Wie konnten sie über die Jahrhunderte unbemerkt bleiben? Und was hat es mit dem Codicubus auf sich? Welche Hinweise mag er enthalten?
    So viele Fragen mich auch quälen, bin ich erleichtert darüber, noch am Leben zu sein. Was geschehen wäre, hätte Dr. Cranston uns nicht gefunden, wage ich mir nicht vorzustellen. Nachdem Friedrich Hingis und er bei der Verfolgung des Zyklopen getrennt wurden, hat er auf eigene Faust weitergesucht und ist dabei durch Zufall auf den alten Friedhof geraten, wo er auf die Stiefelabdrücke einer Frau stieß, die ganz offensichtlich allein unterwegs gewesen war. Da ihm dies verdächtig erschien, folgte er der Fährte, die ihn in die Hütte des Friedhofswärters führte und schließlich zu uns.
    Natürlich sind Friedrich und ich voll des Lobes für unseren Begleiter, und ich schäme mich fast dafür, dass ich ihm zu Beginn so abweisend begegnet bin. Es scheint mir festzustehen, dass unsere Mission ohne Cranstons Hilfe ein ebenso frühes wie unerwartetes Ende genommen hätte und für Kamal damit jede Hoffnung erloschen wäre. So jedoch haben wir eine zweite Chance erhalten, und ich brenne mehr noch als zuvor darauf, das Rätsel zu lösen, das uns zu umgeben scheint …
    P ALAIS C ZERNY K LEINSEITE , P RAG
11. O KTOBER 1884
    Sarah Kincaid unterbrach ihren Vortrag, als jemand sanft gegen die Tür des Krankenzimmers klopfte.
    »Ja, bitte?«
    Die Tür wurde geöffnet, und Horace Cranstons ebenso schmale wie besorgte Züge erschienen. »Verzeihen Sie, Lady Kincaid«, sagte er nur, »aber es ist soweit. Die Gräfin lässt bitten.«
    »Danke, Doktor.« Sarah ließ das kleine, in Leder geschlagene Reisetagebuch sinken, dessen letzten Eintrag sie laut vorgelesen hatte, während sie an Kamals Lager saß und seine Hand hielt. Zwar hatte Cranston ihr gesagt, dass es überaus zweifelhaft war, ob Kamal etwas mitbekam von dem, was sich um ihn herum ereignete, aber Sarah war dennoch überzeugt davon. Was Kamal und sie verbunden hatte, war so stark, dass es unmöglich erloschen sein konnte. Mit ihrer Stimme wollte sie ihm zeigen, dass sie für ihn da war und auf ihn wartete, einem Leuchtfeuer gleich, das den Matrosen auch bei stürmischer See den Weg nach Hause wies. Und selbst wenn

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