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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Cranston Recht gehabt hätte und Kamal tatsächlich nichts von seiner Umgebung wahrnahm, so hätte Sarah nicht davon abgelassen. Denn an der Seite ihres bewusstlosen Geliebten zu sitzen, seine Hand zu halten und mit leiser Stimme auf ihn einzureden, gab ihr das Gefühl, wenigstens etwas für ihn zu tun.
    »Wie geht es unserem Patienten?«, wollte Cranston wissen und trat ein. »Alles unverändert?«
    »Ich denke, ja«, erwiderte Sarah. Sie klappte das Buch zu und steckte es ein. Dann strich sie Kamal zum ungezählten Mal über die hitzige Stirn und betrachtete seine edlen, ebenmäßigen Züge. »Er sieht aus, als würde er schlafen.«
    »Im Grunde tut er das auch«, stimmte der Doktor zu. »Man geht davon aus, dass die Körperfunktionen im Schlaf ähnlich reduziert werden wie bei einer Bewusstlosigkeit.«
    »Mit dem Unterschied, dass gewöhnlicher Schlaf nach einigen Stunden endet«, fügte Sarah hinzu.
    »Bestenfalls.« Laydon lächelte, um sogleich wieder ernst zu werden. »Wissen Sie, dass ich Sie für überaus mutig und tapfer halte, Lady Kincaid?«
    »Danke«, entgegnete Sarah, »aber diese Attribute kommen doch wohl eher Ihnen zu. Sie waren es, der uns gerettet hat.«
    »Zufall. Wäre ich nicht auf Ihre Spur gestoßen …«
    »Das meine ich nicht. Sie haben Ihr Leben eingesetzt, um Friedrich und mich zu retten – einen größeren Freundschaftsdienst gibt es nicht. Ich bin sehr froh, Sie dabeizuhaben.«
    »Danke, Lady Kincaid.«
    »Sarah«, verbesserte sie.
    »Horace«, stellte er sich mit jovialem Grinsen vor, das sie mit einem schwachen Lächeln beantwortete. Dann beugte sie sich vor, um Kamal zarte Küsse auf Stirn und Augen zu hauchen. Anschließend erhob sie sich und wandte sich zum Gehen.
    »Seien Sie unbesorgt«, sagte Cranston, »ich werde in der Zwischenzeit hier bleiben. Sollte sich etwas verändern, so werde ich umgehend nach Ihnen rufen lassen.«
    »Danke, Horace.«
    »Tally-ho«, erwiderte er mit ermunterndem Lächeln, und sie konnte kaum anders, als es zu erwidern.
    Mit einem letzten Blick in Kamals Richtung verließ sie das Krankenzimmer, und über die steile Treppe gelangte sie hinunter in die geräumige Eingangshalle, wo nicht nur Friedrich Hingis, sondern auch Ludmilla, Gräfin von Czerny, sie bereits erwarteten.
    Nachdem ihre Gastgeberin von den dramatischen Ereignissen und der Gefangennahme Sarahs und Hingis’ erfahren hatte, war sie nur mit viel Mühe und Überredungskunst davon abzubringen gewesen, die Polizei zu alarmieren. Zum einen, so hatte Sarah argumentiert, genossen die Prager Ordnungshüter nicht gerade einen untadeligen Ruf, sodass äußerst zweifelhaft war, ob bei den Ermittlungen viel herauskommen würde; zum anderen würden sie eine Menge Fragen stellen und damit letztlich nur den Erfolg des Unternehmens gefährden.
    Nur zögernd hatte sich die Gräfin schließlich bereit erklärt, auf eine Anzeige zu verzichten – im Gegenzug allerdings bestand sie darauf, Sarah von nun an persönlich mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Dazu gehörte auch, dass sie einen Termin am Klementinum erwirkt hatte, wo Sarah unbegrenzten Zutritt zu einer der ältesten Universitätsbibliotheken Europas erhalten sollte.
    »Sind Sie bereit zur Abfahrt?«, erkundigte sich die Gräfin, die bereits fertig angekleidet in der Halle stand und nur auf Sarah gewartet zu haben schien. Wie am Abend ihrer ersten Begegnung trug sie ein beigefarbenes, mit reichen Spitzen versehenes Kleid, das nach britischen Geschmacksbegriffen weder der Jahreszeit noch dem Anlass besonders angemessen war. Vielmehr schien jene extravagante, antiquiert wirkende und doch sehr selbstbewusst zur Schau getragene Kleidung Ausdruck des Lebensgefühls der Gräfin zu sein, die sich zwischen Tradition und Moderne, zwischen Wirklichkeit und Anspruch gefangen sah – und das wiederum war etwas, das Sarah sehr gut nachvollziehen konnte.
    »Bereit«, bestätigte sie und ließ sich von Antonín in den Mantel helfen, den die Gräfin ihr dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hatte. Sarahs eigene Kleidung war nach dem nächtlichen Ausflug in die Kanalisation schon des penetranten Geruches wegen nicht mehr zu gebrauchen gewesen.
    »Dann lassen Sie uns fahren«, meinte die Gräfin. »Ich habe bereits anschirren lassen, der Dekan erwartet uns.«
    »Danke, Gräfin. Ich schätze wirklich sehr, was Sie für mich tun.«
    »Ich weiß, meine Liebe«, entgegnete Czerny mit einem breiten Lächeln, das ihre noblen Gesichtszüge in zwei Hälften zu teilen

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