Am Ufer Des Styx
einzige Möglichkeit, die Sache möglichst rasch zu beenden, bestand darin, ohne Vorwarnung und mit aller Härte zuzuschlagen, auch wenn sich Sarah selbst dafür hasste. Ohne es zu wollen, war sie von einem Augenblick zum anderen zur Partei in diesem mörderischen Konflikt geworden …
»Was wir sollen tun?«, erkundigte sich Perikles drängend. »Soldaten nicht mehr fern …«
»Wir werden ihnen zuvorkommen«, ordnete Sarah an, deren Miene zur reglosen Maske geworden war. »Friedrich – Sie übernehmen die beiden Späher. Wir anderen werden unser Feuer auf die Klephten konzentrieren und versuchen, so viele wie möglich von ihnen zu treffen.«
»Aber bei all dem Wind und der weiten Distanz …«, wandte Hingis ein – Sarahs Blick jedoch brachte ihn zum Schweigen.
»Haben Sie einen besseren Vorschlag?«, erkundigte sie sich.
Der Schweizer schüttelte den Kopf.
»Also machen wir es so«, flüsterte Sarah, während sie in gebückter Haltung zum nächsten Fenster huschte. »Ich versuche, den Anführer zu treffen. Vielleicht ergreifen die anderen dann die Flucht.«
»Und wenn nicht?«, fragte Perikles.
»Dann ist die Expedition hier zu Ende«, orakelte Sarah düster.
Sie nahmen die Gewehre in den Anschlag und gingen in Stellung, hoffend, dass sie nicht vorzeitig entdeckt würden.
»Auf drei«, gab Sarah das Kommando, während sie über den langen Lauf die weiß gekleidete Gestalt anvisierte, die aufrecht auf dem Pferd saß. Sarah kam sich elend dabei vor, ohne Vorwarnung auf einen Menschen zu schießen, aber wenn es nötig war, um Kamal zu retten, dann würde sie es tun …
»Eins.«
Die Spannhähne wurden zurückgezogen.
»Zwei.«
Die Gefährten hielten den Atem an, zielten auf die Widerstandskämpfer, die von dem Hinterhalt nichts ahnten. Zum Äußersten entschlossen, wollte Sarah auch die letzte Zahl nennen, als draußen plötzlich Tumult entstand.
Einer der Klephten, die vorn an der Straße Wache hielten, stieß einen heiseren Ruf aus, worauf hektische Betriebsamkeit unter den Männern ausbrach. Die beiden Späher, die der Anführer zum Bauernhaus geschickt hatte, machten auf dem Absatz kehrt und rannten zurück, während ihre Kameraden bereits zu laufen begannen, dem nahen Wald entgegen. Das Pferd des Anführers bäumte sich wiehernd auf, dann schoss es ebenfalls davon, die Straße hinab Richtung Tal. Im nächsten Moment erkannte Sarah den Grund dafür, denn plötzlich war gedämpfter Hufschlag zu hören, und eine Schwadron blau uniformierter Reiter jagte in gestrecktem Galopp die Passstraße herab, gekrümmte Säbel über den Köpfen schwingend.
Osmanische Kavallerie!
Sofort schwärmten die Reiter aus, sprengten quer über die Lichtung und nahmen die Verfolgung der Rebellen auf. Schnee stob unter den Hufen ihrer Pferde davon, aus deren Nüstern heißer Dampf quoll. Zwei Widerstandskämpfer, die den schützenden Wald nicht mehr rechtzeitig erreichten, wurden enthauptet, als die Reiter sie einholten und in vollem Galopp die Säbel kreisen ließen. Aus dem Wald waren Schüsse zu hören, ein Kavallerist stürzte getroffen aus dem Sattel. Dann hatten die Verfolger das verschneite Dickicht erreicht und setzten den Rebellen hinterher. Der Schusslärm und das Geschrei der Männer verklangen im eisigen Wind.
Fast hätte man alles für einen Spuk halten können, der sich auf der Lichtung abgespielt hatte – wären da nicht fünf leblose Körper gewesen, die im Schnee lagen und Zeugnis von den grausigen Ereignissen ablegten, die sich soeben zugetragen hatten …
»Das war eng«, kommentierte Hingis und brachte Sarah damit erst richtig zu Bewusstsein, dass sie der brenzligen Situation entronnen waren.
Noch einige Augenblicke lang verharrten sie, um sich zu vergewissern, dass keine der beiden Parteien zurückkehrte. Als es jedoch ruhig blieb, zogen sie sich zurück, rafften in aller Eile ihr Gepäck zusammen, sattelten die Pferde und brachen auf.
Es lag noch ein weiter Weg vor ihnen, und alle brannten darauf, die Grenzregion hinter sich zu lassen.
3.
R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
31. O KTOBER 1884
Nach dem dramatischen Zwischenfall am frühen Morgen haben wir die Passstraße verlassen und den Weg nach Iaina eingeschlagen, der osmanisch geprägten Hauptstadt von Epiros. Je weiter wir uns vom Grenzland entfernen, desto mehr kommt mir das, was geschehen ist, wie ein böser Albtraum vor. Gleichwohl weiß ich, dass es die grausame Wirklichkeit war, die uns ereilte und der wir uns auf dem Rückweg über
Weitere Kostenlose Bücher