Am Ufer Des Styx
den Pass noch einmal werden stellen müssen …
So erleichtert ich darüber bin, dass es nicht zur Konfrontation mit den Klephten gekommen ist, gibt es bohrende Fragen, die mich beschäftigen: Hätte ich den Abzug wirklich betätigt? Hätte ich einen hinterhältigen Mord begangen, um sicherzustellen, dass die Mission weitergeht? Was bin ich noch bereit, dafür zu tun? Welche Opfer würde ich um Kamals willen bringen?
Ich rechne es Friedrich Hingis hoch an, dass nicht er es ist, der mir diese Fragen stellt, aber natürlich weiß ich, dass er ebenso denkt. Habe ich anfangs noch versucht, alle moralischen Bedenken hintanzustellen, hat der Zwischenfall in den Bergen dafür gesorgt, dass sie nun umso lauter ihre Stimme erheben.
Wie weit darf ich gehen, um meinen geliebten Kamal zu retten? Darf ich das Leben eines anderen Menschen dafür opfern? Darf ich das Wohl anderer dafür riskieren? Darf ich dafür jene Werte verraten, zu denen ich erzogen wurde und die mir bislang als unverrückbar erschienen? Darf ich dafür zulassen, dass eine Bande ruchloser Verbrecher in den Besitz des vielleicht kostbarsten Geheimnisses der Menschheitsgeschichte gelangt?
Je mehr ich über diesen Fragen grüble, desto weniger gefällt mir die Antwort, denn sie ist ebenso kurz wie erschöpfend.
Sie lautet: Nein …
2. N OVEMBER 1884
In Iaina haben wir die Pferde gewechselt und frische Vorräte gefasst. Nicht ohne Grund haben die Türken diese Stadt zur Kapitale erhoben: Unmittelbar am Ufer des Sees von Pamvotis gelegen, verfügt sie über eine schmale Landzunge, die ins Wasser hinausreicht und auf der schon zu mittelalterlicher Zeit eine Festung errichtet wurde. Zu drei Seiten von Wasser umgeben, ist sie leicht zu verteidigen und wird auch heute noch als Militärstützpunkt genutzt.
Aus gutem Grund …
Perikles, der als Einziger von uns in der Stadt gewesen ist, berichtet von allgemeiner Unruhe, die dort herrscht. Die gesamte Garnison ist auf den Beinen, was den Unruhen in den Bergen zuzuschreiben sein dürfte. Ich bin erleichtert, dass wir uns von der unsicheren Grenzregion entfernen und dem Tal des Flusses Luros folgen, der parallel zur Grenze gen Süden verläuft und dabei den Tomaros passiert, jenen Berg, an dessen steilen Hängen der Acheron entspringt …
3. N OVEMBER 1884
Fast kommt es mir wie ein Wunder vor, dass wir das Tal des Luros ohne Zwischenfälle passieren konnten. Nur zweimal sind wir türkischen Patrouillen begegnet, die unseren Durchgangsschein jedoch anerkannt haben und uns ohne Behelligung ziehen ließen.
Gegen Mittag haben wir den Tomaros erreicht, den wir auf einer schmalen Gebirgsstraße umrunden. Glücklicherweise fällt kein Schnee, aber der Wind, der von den weiß überzogenen Berghängen herabweht, ist eisig kalt. Die westlichen Ausläufer des Berges sind dicht bewaldet; aus den Tälern, die sich zwischen den Höhenzügen erstrecken, ragen schroffe Felsen, die sich zu bizarren Formationen türmen. Inmitten dieser urwüchsigen Wildnis entspringt der Fluss, der seit Jahrtausenden die Phantasie der Menschen beflügelt und dessentwegen wir diese weite und gefährliche Reise auf uns genommen haben.
Der Acheron …
T AL DES A CHERON
4. N OVEMBER 1884
Das Erste, was Sarah von dem sagenumwobenen Fluss wahrnahm, dessen Bett sich im Lauf von Jahrmillionen durch das felsige Land gegraben hatte, war ein fernes Rauschen.
Am frühen Morgen waren sie aufgebrochen und hatten ihr Lager am Fuß des Tomaros verlassen, um dem Tal Richtung Südwesten zu folgen. Unweit eines Dorfes namens Trikastro waren sie nach Nordwesten abgebogen und einem schmalen Pfad gefolgt, der durch dunkle Wälder führte und sich schließlich so verengte, dass es zu Pferd kein Weiterkommen mehr gab. Von da an waren Sarah und ihre Gefährten nur noch langsam vorangekommen, durch dichten Wald, der nicht nur aus Kiefern und Pinien bestand, sondern auch aus grauen Felsnadeln.
Je weiter es durch den Wald ging, desto lauter wurde das Rauschen, und zu Sarahs innerer Unruhe gesellte sich erneut die Neugier. Hingis, der unmittelbar hinter ihr ging und sein Pferd am Zügel führte, schien es nicht anders zu gehen. Sarah glaubte in seinen Augen dieselbe Wissbegier zu erkennen, die sie auch schon in Alexandrien bemerkt hatte. Schließlich steigerte sich das Rauschen und wurde zu frenetischem Tosen. Der Wald lichtete sich, und wenige Augenblicke später standen Sarah und ihre Gefährten vor einem steilen Abbruch.
Fast senkrecht fiel die Felswand ab. Zehn
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