Am Ufer Des Styx
Sarah zu, wie die Luftblasen aufstiegen und sich die Flasche füllte.
» Vraiment, ich hätte nicht gedacht, dich so bald wiederzusehen, chérie …«
Erschrocken sog Sarah die Luft ein und blickte auf – sie war nicht mehr allein. Eine Gestalt war neben sie getreten, die nicht Form, sondern nur Kontur besaß, ein lebender Schatten ohne Gesicht. An seiner Stimme freilich hatte Sarah ihn dennoch erkannt …
»Fort«, zischte sie, während sie die Flasche aus dem Wasser hob und mit zitternder Hand zu verschließen suchte. »Du bist nicht wirklich …«
»Au contraire, ma chère! Ich bin so wirklich, wie ich es nur sein kann – du hingegen wirst schon sehr bald aufhören zu existieren, n’est ce pas?«
»Warum sagst du das, Maurice?«
»Pourqoui pas? Weil es nun einmal wahr ist. Allzu oft hast du dich der Grenze zwischen Leben und Tod genähert und einen Blick auf die andere Seite geworfen – nun wirst du sie überschreiten.«
»Aber ich darf nicht sterben! Kamal braucht meine Hilfe …«
»Kamal?« Du Gards Schatten lachte auf. »Hast du es denn noch nicht begriffen? Dein geliebter Wüstenprinz braucht dich nicht mehr. Er hat andere Arme gefunden, die ihn trösten. Ein anderes Herz, das sich für ihn erwärmt …«
Der Schemen deutete hinaus auf den See, wo sich im nächsten Moment ein Bild zu formen begann.
»Kamal«, hauchte Sarah, als sie ihren Geliebten erblickte, reglos auf sein Lager gebettet. Im nächsten Moment jedoch erschien eine Gestalt, die sich über ihn beugte und ihn auf Stirn und Augen küsste, genau so, wie sie es stets getan hatte. Anschließend blickte sie auf und schaute Sarah unverwandt an, wobei ein böswilliges Grinsen über ihre blassen Züge huschte – und mit einem Aufschrei des Entsetzens erkannte Sarah die Gräfin von Czerny …
»Nein!«, brüllte sie, und das Bild verblasste. Der Schatten neben ihr jedoch blieb.
»Wenn du ehrlich zu dir selbst bist, so hast du stets gewusst, dass es so kommen würde«, sagte er – nun allerdings mit einer anderen Stimme, in der Sarah zu ihrem noch größeren Entsetzen jene von Gardiner Kincaid erkannte. »Ihr seid euch zu ähnlich, um nicht dasselbe für Kamal zu empfinden.«
»Vater«, sagte sie und versuchte, sich aufzurappeln. Ihre Beine versagten ihr jedoch den Dienst, und eine Übelkeit befiel sie, die schlimmer war als alles, was sie je ertragen hatte.
»Bin ich dein Vater«, erwiderte der alte Gardiner, »oder bin ich es nicht? Laydons Worte haben dich zweifeln lassen, nicht wahr?«
»J-ja«, würgte Sarah.
»Wieder machst du dir etwas vor. Denn jener Zweifel wohnt nicht erst seit kurzer Zeit in deinem Herzen, sondern schon sehr viel länger. Sein Ursprung liegt dort, wohin deine Erinnerung nicht reicht, Sarah. In jenem Abschnitt deines Lebens, der hinter dem Vorhang des Vergessens liegt …«
»D-Dunkelzeit«, stammelte Sarah – und übergab sich. Das karge Frühstück aus wilden Beeren, das Perikles für sie gesammelt hatte, stürzte aus ihrem Rachen, während sich ihr Magen wieder und wieder zusammenkrampfte. Auf die Ellbogen gestützt, kauerte sie auf dem Boden, inmitten ihres Erbrochenen.
Mit aller Macht zwang sie sich dazu, noch einmal aufzublicken – der Schatten des alten Gardiner jedoch, der das Totenreich verlassen hatte, um zu ihr zu sprechen, war verschwunden. Dafür hatte Sarah eine weitere Vision – und zum ersten Mal in ihrem Leben war ihr, als würde sich das schwarze Tuch des Vergessens, das sich über ihre Vergangenheit gebreitet hatte, tatsächlich heben.
In den Träumen, die sie seit dem Tod des alten Gardiner verfolgten, hatte sie dumpfe Stimmen gehört, verschwommene Eindrücke und unbestimmbare Gerüche wahrgenommen. In diesem Moment jedoch nahmen die Dämpfe über dem See Gestalt und Farbe an, und mit geröteten Augen sah Sarah die Mauern einer alten Festung, die hoch über den Bergen thronte, an einem entlegenen Ort. Leiser Gesang und exotischer Geruch lagen in der Luft, und plötzlich, als stünde der Sprecher direkt neben ihr, hörte Sarah eine Stimme.
»Du bist es«, flüsterte sie.
Dann erloschen Sarahs Sinne.
Von einem Augenblick zum anderen verlor sie das Bewusstsein und brach zusammen. Die Fackel, die sie mit äußerster Not gehalten hatte, kippte nach vorn und fiel ins Wasser, verlosch mit leisem Zischen.
Die Höhle versank in völliger Finsternis, die alles zu verschlingen schien, einschließlich der jungen Engländerin, die wie so viele vor ihr aufgebrochen war, um das Wasser des
Weitere Kostenlose Bücher