Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
gewisse Traurigkeit zu erkennen, der Blick des einen Auges verriet tief sitzenden Schmerz …
    »Dann danke ich Ihnen, Polyphemos«, sagte Sarah leise, »von ganzem Herzen. Und ich bitte Sie gleichzeitig um Verzeihung für das, was ich Ihnen angetan habe.«
    »Das ist nicht wichtig.«
    »Wie können Sie das sagen? Ich bin es, der Sie diese Narben zu verdanken haben, aber statt mir zu zürnen, retten Sie mir mehrfach das Leben und beschützen mich.«
    »Nichts anderes ist meine Aufgabe«, erwiderte der Zyklop schlicht. »Nur dazu wurde ich geboren.«
    »Um mich zu beschützen?« Sarahs Stirn legte sich in Falten.
    »Sie und die Ihren«, bestätigte Polyphemos.
    »Aber – wer hat Ihnen diesen Auftrag erteilt?«, erkundigte sich Sarah verwundert.
    »Das wissen Sie wirklich nicht mehr?«
    »Würde ich sonst wohl danach fragen?«
    »Lady Kincaid«, erwiderte der Zyklop und beugte sich noch weiter zu ihr herab, sodass er nur noch zu flüstern brauchte, »Sie selbst sind das gewesen.«
    »Ich selbst?«
    »Allerdings.«
    »Aber wie …? Ich meine …« Verwirrt pendelten Sarahs Blicke zwischen dem Einäugigen und Friedrich Hingis hin und her, der über die Enthüllung nicht weniger überrascht zu sein schien als sie selbst. Sprach der Zyklop die Wahrheit? Immerhin hatte er ihr zweimal das Leben gerettet, sodass sie wenig Anlass hatte, an seinen Worten zu zweifeln. Aber wenn es so war, wie er sagte, warum wusste sie dann nichts davon?
    Es gab nur eine plausible Antwort.
    Die Dunkelzeit …
    »Wie alt bin ich damals gewesen?«, erkundigte sie sich vorsichtig.
    »Nicht sehr alt«, erwiderte Polyphemos und bestätigte damit ihre Vermutung. »Ein Mädchen noch.«
    »Aber wieso …? Wie …?«
    Sarah wusste nicht, was sie erwidern sollte. Myriaden von Fragen stürzten gleichzeitig auf sie ein. Ihr Leben lang hatte sie versucht, den Vorhang des Vergessens zu lüften und zu erfahren, was in der Vergangenheit geschehen war. Nun stand sie zum ersten Mal jemandem gegenüber, der ein Zeuge jener frühen Tage gewesen war.
    Nicht, dass der alte Gardiner ihr nicht von ihrer Kindheit erzählt hätte. Aber stets hatte sie dabei das Gefühl gehabt, dass er ihr etwas verschwieg. Nun schien sich die Chance zu ergeben, Antworten auf all die Fragen zu bekommen, die sie sich insgeheim schon immer gestellt hatte, zuvorderst jene, die ihr auch Mortimer Laydon in Newgate gestellt hatte. Selbst in seinem Wahn hatte Laydon erkannt, dass es diese Frage war, die Sarah vor allen anderen bewegte.
    Die Frage nach ihrer Identität …
    »Sie können sich wirklich nicht erinnern?«, fragte Polyphemos. Ernüchterung schwang in seiner Stimme mit, als wäre eine Hoffnung, die er bis zuletzt gehegt hatte, zunichte gemacht worden.
    »Nein«, gestand sie flüsternd.
    »Dann ist es also wahr, was sie sagen.«
    »Was wer sagt?«, fragte Sarah. »Von wem sprechen Sie? Was hat das alles zu bedeuten?«
    »Ruhen Sie sich noch ein wenig aus«, wechselte der Zyklop das Thema. »Sobald es draußen dunkel ist, brechen wir auf. Fühlen Sie sich stark genug, die Reise fortzusetzen?«
    »Natürlich«, versicherte Sarah und richtete sich auf dem behelfsmäßigen Lager auf, das aus einer Wolldecke und einem mit Heu gestopften Kissen bestand. Dass sie sich völlig entkräftet fühlte und das Gefühl hatte, ihr Schädel wolle zerspringen, behielt sie geflissentlich für sich. »Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Warum bin ich hier? Warum sind Sie hier? Was hat das alles zu bedeuten?«
    »Was glauben Sie?«
    Sarah schnaubte. »Als ob es eine Rolle spielen würde, was ich glaube und was nicht.«
    »Der Glaube spielt immer eine Rolle, Lady Kincaid. Zusammen mit der Liebe bildet er die stärkste Macht auf Erden. Ihre Feinde wissen das und haben sich dieses Wissen zunutze gemacht. Eine Verschwörung, deren Wurzeln Jahrtausende zurückreichen, nimmt ihren Gang – und ohne, dass Sie es wollten oder auch nur davon wussten, sind Sie zu ihrem Mittelpunkt geworden.«
    »Ich?«, fragte Sarah. Sie hatte es aufgegeben, an den Worten des Einäugigen zu zweifeln. Sie würde keine Antworten bekommen, wenn sie nicht bereit war, Vertrauen zu schenken. »Wieso ausgerechnet ich?«
    »Weil Sie als Einzige in der Lage waren, die Quelle des Lebens zu finden und das Elixier zu beschaffen.«
    »Unsinn«, wehrte Sarah ab. »So schwer ist das nicht gewesen.«
    »Weil Ihre Intuition Ihnen den Weg gewiesen hat«, meinte Polyphemos überzeugt. »Andere jedoch, die nach der Quelle suchten, haben

Weitere Kostenlose Bücher