Am Ufer Des Styx
genau das tat, was er von ihr erwartete, dass sie damit vielleicht noch mehr Unheil heraufbeschwor – all das kam ihr in den Sinn, aber sie schob alle Bedenken beiseite. Keine Einwände, und wären sie noch so bedeutend, konnten ihre Liebe zu Kamal aufwiegen. Dieses Mal – und wäre es das einzige und letzte Mal in ihrem Leben – würde sie nur mit ihrem Herzen entscheiden.
Sarah war nicht nur Archäologin und Wissenschaftlerin, sondern auch eine Frau, und sie würde alles daransetzen, das Leben des Mannes zu retten, den sie liebte, ganz gleich, wie die Konsequenzen ausfallen mochten. In den vergangenen beiden Jahren hatte sie auf viel verzichtet und manchen Verlust erlitten – diesmal wollte sie nur an sich selbst denken und an ihr persönliches Glück …
»Ich habe mich entschieden«, verkündete sie deshalb leise.
»Sie haben sich entschieden?« Sir Jeffrey schaute sie fragend an. »Gab es denn etwas zu entscheiden?«
»Allerdings«, bestätigte sie. »Ich werde alles daransetzen, Kamal zu retten, und mich auf die Suche nach dem Gegenmittel begeben.«
»Nach dem Gegenmittel?« Cranston machte große Augen. »Aber ich sagte Ihnen doch, dass ich nicht einmal weiß, ob überhaupt eines …«
»Es existiert, vertrauen Sie mir«, unterbrach Sarah ihn mit fester Stimme. »Und es wartet darauf, entdeckt zu werden.«
»Wo?«, fragte Sir Jeffrey voller Verwunderung. Auch in den Mienen der übrigen Gentlemen war Erstaunen zu lesen.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Sarah wahrheitsgemäß, »aber ich werde es finden.«
»Meine Teure«, erkundigte Dr. Teague sich ein wenig gönnerhaft, »wenn Sie weder wissen, ob ein solches Gegenmittel tatsächlich existiert, noch, wo Sie danach suchen sollen – wie können Sie Ihrer Sache dann so sicher sein?«
»Indem ich jemanden frage, der mir Auskunft geben kann«, antwortete Sarah.
»Wer?«, fragte Sir Jeffrey, dessen bekümmertem Ausdruck anzumerken war, dass er die Antwort bereits zu ahnen schien.
»Die Gentlemen mögen es mir nachsehen«, entgegnete Sarah und blickte ernst in die Runde, »aber ich habe wohl den falschen Doktor befragt …«
8.
P ERSÖNLICHES T AGEBUCH S ARAH K INCAID
Ist dies das Schicksal, das ich stets von Neuem durchleiden muss? Prometheus gleich, der, an die Felsen des Kaukasus geschmiedet, wieder und wieder dieselben Qualen durchlebt? Oder Sisyphos, der dazu verurteilt ist, die immergleichen Mühen auf sich zu nehmen, ohne Aussicht auf Erfolg oder auf Rast? Geht es mir ebenso? Muss ich meine Vergangenheit stets aufs Neue erleben?
Bei meiner letzten Begegnung mit Mortimer Laydon, die so unverhofft in den düsteren Gemäuern Newgates erfolgte, war ich nicht darauf gefasst, mit meiner Trauer und meinen Ängsten konfrontiert zu werden. Das Grauen packte mich erneut, und ich schwor mir insgeheim, dem Mann, der soviel Leid über mich und meine Familie gebracht hat, niemals wieder in die Augen zu sehen.
Ich habe meine Meinung geändert – nicht aus freien Stücken, sondern weil die Notwendigkeit mich dazu zwingt.
Noch vor wenigen Tagen hätte ich mir keine Macht vorstellen können, die stark genug gewesen wäre, mich dazu zu bringen, dem Mörder meines Vaters erneut gegenüberzutreten. Doch die Dinge haben sich geändert, und um Kamal zu retten, würde ich selbst einem Feuer speienden Drachen ins glühende Auge blicken. Wie gering die Erfolgsaussichten auch sein mögen, ich darf nichts unversucht lassen – selbst wenn es bedeutet, dass ich meinem Erzfeind erneut begegnen muss.
Einem mittelalterlichen Recken gleich, der mit Harnisch und Brünne gepanzert in die Schlacht zieht, versuche auch ich mich zu schützen für die bevorstehende Konfrontation. Doch so sehr ich mein Innerstes zu wappnen suche, ahne ich, dass es letzten Endes keinen Schutz geben wird vor Laydons Blicken und dem Gif seiner Worte.
Letztlich wird es seine Persönlichkeit sein, die gegen meine steht, sein Wahnsinn gegen meine Vernunft. Und obwohl ich weiß, dass ich aus dieser Schlacht nicht als Siegerin hervorgehen werde, darf ich den Kampf nicht scheuen. Denn meine Niederlage bedeutet Hoffnung für meinen geliebten Kamal …
V ERHÖRKAMMER 5 N EWGATE , L ONDON
N ACHT ZUM 27. S EPTEMBER 1884
»Und Sie sind sicher, werte Freundin, dass Sie das wirklich tun wollen?« Sir Jeffreys weiße Brauen hatten sich über seinen Augen zusammengezogen, seine sonore Stimme verriet ehrliche Besorgnis. »Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was die erneute Begegnung mit diesem Verbrecher
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