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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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verlangt danach, entschlüsselt zu werden, und wenn es eine Möglichkeit bergen sollte, Kamal zu retten, dann muss ich sie finden …«

10.
    P ERSÖNLICHES T AGEBUCH S ARAH K INCAID
    Kann dies Zufall sein? Bin ich tatsächlich der Lösung des Rätsels auf der Spur, das man mir aufgezwungen hat? Oder bin ich in meiner Verzweiflung einer Täuschung erlegen, die mich Zusammenhänge vermuten lässt, wo keine bestehen? Im einen Moment habe ich das Gefühl, auf der richtigen Fährte zu sein, während ich schon im nächsten Augenblick Zweifel hege. Rechtfertigen das Geschwätz eines geisteskranken Mannes und eine Sensationsmeldung in der Gazette einen nächtlichen Besuch in der Bibliothek?
    Sir Jeffrey macht aus seinen Zweifeln kein Hehl, aber aus alter Freundschaft zu meinem Vater lässt er mich gewähren. Dank seiner guten Verbindungen zum Königshaus hat er dafür gesorgt, dass die Pforten der British Library nicht nur für mich geöffnet wurden, sondern auch offen bleiben, nachdem es dunkel geworden ist und die übrigen Besucher die Bibliothek längst verlassen haben. Im fahlen Schein einer Gaslampe setze ich meine verzweifelte Suche fort, während das Gift des Zweifels weiter an mir nagt. Hat Mortimer Laydon die Wahrheit gesagt, als er behauptete, mein Vater zu sein? Bin ich mein ganzes bisheriges Leben lang einer Lüge aufgesessen?
    Ich habe das Gefühl, auf einer Eisscholle durch reißende Gewässer zu treiben, und erwarte jeden Augenblick, dass der unsichere Boden unter meinen Füßen zerbricht …
    B IBLIOTHEK DES B RITISH M USEUM G OWER S TREET , L ONDON
S PÄTER A BEND DES 27. S EPTEMBER 1884
    Die Stätte war Ehrfurcht gebietend. Über der weiten Rotunde des Lesesaals wölbte sich die riesige Kuppel, die zugleich Zentrum und Wahrzeichen des imposanten Gebäudes war, das Robert Smirke entworfen hatte und das seit fast vierzig Jahren nicht nur die bedeutendste Kunstschätzsammlung des gesamten Empire enthielt, sondern auch die wohl geballteste Fülle an Wissen. Der Grundstock der Bibliothek des British Museum ging auf die Bücherei Georgs III. zurück sowie auf die Sammlungen engagierter und wohlhabender Privatleute, die sich um die Forschung und Bildung im Reich verdient gemacht hatten. Sarah wusste, dass es eines der Lebensziele Gardiner Kincaids gewesen war, einst zu diesem erlauchten Kreis zu gehören und in einem Atemzug mit Robert Harley, dem Earl of Oxford, oder Sir Hans Sloane genannt zu werden. Zu Lebzeiten war es ihm nicht vergönnt gewesen, aber Sarah hatte vor, dem Museum eines Tages die Bibliothek von Kincaid Manor zu vermachen, und so dafür zu sorgen, dass dem alten Gardiner auf diese Weise noch jener Ruhm zuteil wurde, den er sich stets erhofft hatte.
    Ihre Augen schmerzten. Immer häufiger blickte sie von den Büchern auf, die auf dem großen Eichenholztisch ausgebreitet lagen, und rieb sich die Nasenwurzel oder massierte sich die Schläfen. Die Buchstaben der oftmals alten und auf holzigem Papier gedruckten Texte verschwammen vor ihren Augen, aber sie zwang sich dazu, weiterzulesen und sich zu konzentrieren. Mit fahrigen Handbewegungen fertigte sie Notizen an, wenn ihr eine Information merkenswert erschien, und in mühsamer Kleinarbeit gelang es ihr, Wissen über das zu sammeln, was in den Gassen der Prager Judenstadt angeblich vor sich ging.
    Obwohl es bereits später Abend war und der Glockenturm von St. George’s soeben elfmal geschlagen hatte, blieb Sarah weiter in ihre Bücher versunken. Die Zeit drängte, und viele Versuche, Kamal zu helfen und ein Heilmittel zu finden, blieben ihr nicht. Sie musste Gewissheit haben, ehe sie zu ihrer Suche aufbrach – und je später es wurde und je mehr Informationen sie zusammentrug, desto überzeugter war Sarah, auf der richtigen Spur zu sein.
    Leider stand sie damit allein.
    Sir Jeffrey, der ihr den Nachmittag über Gesellschaft geleistet hatte, weil er es als die feierliche Pflicht eines Gentleman zu betrachten schien, hatte sich bei Einbruch der Dunkelheit verabschiedet – freilich nicht ohne seinen kräftigen Kutscher als Bewacher zurückzulassen, der Sarah nach getaner Arbeit zurück nach Mayfair bringen sollte. Sarah bedauerte den armen Jonathan dafür, dass er sich ihretwegen die Nacht um die Ohren schlagen musste, während sein Dienstherr bereits im weichen Bett lag und den Schlaf der Gerechten hielt.
    Was Letzteres betraf, so hatte sich Sarah jedoch gründlich in Jeffrey Hull geirrt …
    Urplötzlich gab es ein lautes

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