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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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des Wetters mein Innerstes wider. Stundenlang sitze ich an Kamals Seite und halte seine heiße, reglose Hand, wische ihm die Schweißperlen von der Stirn, während ich dem immergleichen Rattern des Zuges lausche. Und obwohl ein Teil von mir sich davor fürchtet, kann ich es kaum noch erwarten, Prag zu erreichen und endlich mit der Suche zu beginnen, die mir meinen Geliebten zurückbringen soll …
    M ASARYKOVO N ÁDRAŽÍ , P RAG
A BEND DES 9. O KTOBER 1884
    Als wäre sie ein lebendiges Wesen, das der Strapaze des langen Weges Tribut zollte, ließ die schwarze Dampflok ein heiseres Schnauben vernehmen, als sie auf dem vordersten Gleis des Bahnhofs zum Stillstand kam. Zischender Dampf quoll aus den Ventilen und legte sich als weißer Dunst über den Bahnsteig, aus dem sich schon im nächsten Augenblick zahllose Gestalten lösten: Bahnarbeiter und Kontrolleure, Gepäckträger und Fremdenführer, fliegende Händler und Kutscher, Zeitungsjungen und Schuhputzer, Wartende und Schaulustige. Sie alle drängten sich unter der gläsernen, von eisernen Säulen getragenen Überdachung des Bahnsteigs, von der das laute Organ des Schaffners widerhallte, der den soeben eingefahrenen Expresszug bekannt gab.
    Die Waggontüren wurden geöffnet. Dutzende Reisender ergossen sich auf den Bahnsteig und vermischten sich mit den dort Wartenden zu einer unüberschaubaren Menschenmenge. Gepäckträger und Droschken wurden angemietet und Bahnbedienstete nach den Örtlichkeiten befragt; andere Reisende schlugen den Weg zur Bahnhofsgaststätte ein, von wo der würzige Duft von Gulasch und Pilsener drang und sich mit dem bitteren Geruch von Ruß und Dampf vermischte, während halbwüchsige Jungen um die Gunst der Neuankömmlinge buhlten und sie für dieses oder jenes Hotel zu begeistern suchten.
    Inmitten dieses Durcheinanders stand Sarah Kincaid auf dem Bahnsteig und suchte in jenem Meer aus erleichterten und erschöpften, lachenden und misslaunigen, hungrigen und satten, schwitzenden und frierenden, schweigenden und lauthals plärrenden Gesichtern nach einem vertrauten Antlitz. Ein Dutzend Mal wurde sie unsanft angerempelt und erhielt dafür allenfalls halbherzige Entschuldigungen, bis sich das Gedränge auf dem Bahnsteig endlich lichtete und sie tatsächlich eine Miene ausmachen konnte, die ihr bekannt und vertraut war.
    Sie gehörte einem Mann, der nur wenige Jahre älter war als sie selbst, dabei aber sehr gesetzt und gravitätisch wirkte, was zum einen an seiner korrekten, aus Mantel und Zylinder bestehenden Kleidung, zum anderen aber auch an der Nickelbrille liegen mochte, die auf seiner Nase saß und ihm ein oberlehrerhaftes Aussehen verlieh. Die Zeit, die seit ihrer letzten Begegnung verstrichen war, hatte ihn etwas kräftiger werden lassen, als Sarah ihn in Erinnerung hatte, das dunkle Haar jedoch stand noch immer wirr und kraus in alle Richtungen, als ob es sich jeder Bändigung durch Kamm oder Bürste absichtlich widersetzte.
    Hätte man ihr noch vor wenigen Jahren gesagt, dass sie eines Tages erfreut und dankbar sein würde, diesem Mann zu begegnen, hätte Sarah darüber nur spöttisch gelacht – doch seit damals hatte sich vieles geändert, und die Tatsache, dass er sich tatsächlich zur telegraphisch mitgeteilten Ankunftszeit am Bahnsteig eingefunden hatte, um sie abzuholen, war ein weiterer Beweis dafür, dass Friedrich Hingis schon lange kein Gegner mehr war, sondern ein geschätzter Freund.
    Erleichtert winkte Sarah ihm zu, und als der Schweizer sie gewahrte, kam er ihr eilig entgegen, ein breites Grinsen der Widersehensfreude im Gesicht. Dabei war deutlich zu erkennen, dass die Hand, die aus dem linken Ärmel seines Mantels lugte, seltsam starr und im Gegensatz zur Rechten von einem Handschuh aus schwarzem Leder überzogen war – das traurige Relikt der dunkelsten Stunde in Friedrich Hingis’ Leben …
    »Friedrich«, sagte Sarah nur, während sie einander die Hände reichten und sich begrüßten. »Sie sind tatsächlich gekommen.«
    »Natürlich, werte Freundin – was haben Sie erwartet?«
    »Wie lange ist es her?«
    »Zwei Jahre und vier Monate«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. »Dennoch kommt es mir vor, als wäre unser gemeinsames Abenteuer eben erst zu Ende gegangen.«
    »Geht mir nicht anders, lieber Freund«, entgegnete Sarah, und trotz ihrer inneren Anspannung brauchte sie sich das Lächeln, das flüchtig über ihre Züge huschte, nicht mühsam abzuringen. »Dennoch ist viel geschehen seit

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