Am Ufer Des Styx
örtliche Militär um Hilfe zu bitten und einen Lazarettwagen zu bestellen.«
»Das örtliche Militär?«, erkundigte sich Sarah staunend. »Sie haben hier Verbindungen?«
»Ich persönlich nicht«, entgegnete der Schweizer verschmitzt. »Bisweilen genügt es, Leute mit Verbindungen zu kennen …«
Sie verließen den Bahnsteig und betraten die weite, von Verkaufsständen und Zeitungsbuden gesäumte Bahnhofshalle. Unwillkürlich fühlte sich Sarah an London erinnert, denn die Kuchenverkäufer, Blumenmädchen und Schuhputzerjungen schienen sich in nichts von denen zu unterscheiden, die in King’s Cross um Kundschaft buhlten. Und ähnlich wie dort schien es auch jene zwielichtigen Gestalten zu geben, die sich in dunklen Nischen drängten und die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, anderen Leuten ihre Habe aus der Tasche zu ziehen – und das im wörtlichen Sinn.
Es amüsierte Sarah ein wenig zu sehen, wie ihre männlichen Begleiter ohne Not in die Beschützerrolle schlüpften und sich zu ihren Seiten postierten wie eine Leibgarde. Derart bewehrt, passierte sie die Bahnhofshalle und trat durch die großen hölzernen Türen auf den Vorplatz, wo zahllose Kutschen und Droschken standen und auf Kundschaft warteten – darunter auch der Lazarettwagen.
Dr. Cranston überwachte das Aufladen der Bahre persönlich und bestand darauf, während der Fahrt bei seinem Patienten zu bleiben. Da der Wagen nicht mehr Platz bot, blieb Sarah nichts anderes übrig, als die einspännige Droschke zu besteigen, die Hingis angemietet hatte. Das Gefährt war einem englischen Hansom Cab nachempfunden, was bedeutete, dass der Kutscher hinter den Passagieren saß, die somit freie Sicht auf die Straße und die Umgebung hatten.
Auf Deutsch wies Hingis den Kutscher an, langsam zu fahren, damit der Lazarettwagen dem ansonsten wesentlich wendigeren und schnelleren Einspänner folgen konnte. Dann fuhr das Gefährt an und bog in die breite Straße ein, die stadteinwärts führte.
»Sind Sie schon einmal in Prag gewesen?«, erkundigte sich Hingis bei Sarah.
»Noch niemals.«
»Dann haben Sie etwas verpasst – es ist nämlich eine der schönsten Städte der Welt.«
»Sie sprechen aus Erfahrung?«
»Das will ich meinen. Habe ich Ihnen nie erzählt, dass ich im Zuge meiner Geschichtsstudien mehrere Jahre in Prag gelebt habe?«
Sarah schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich mich erinnere …«
»Ich hätte Ihnen meine Unterstützung nicht angeboten, wenn ich nicht davon überzeugt gewesen wäre, Ihnen auch wirklich helfen zu können, Sarah«, versicherte Hingis und hob die Nachbildung seiner linken Hand, »schließlich bin ich hiermit oft genug mehr Hindernis denn Hilfe. Aber ich darf von mir behaupten, dass ich diese Stadt besser kenne als mancher gebürtige Prager, und ich habe mir erlaubt, einige Vorbereitungen zu treffen.«
»Und dafür bin ich Ihnen sehr dankbar«, versicherte Sarah. »Wo befindet sich das Hotel, in dem Sie uns untergebracht haben?«
»Kein Hotel«, wehrte der Schweizer ab. »Stattdessen werden Sie die Ehre haben, in der Stadtvilla der Gräfin von Czerny zu Gast zu sein.«
»Der Gräfin von Czerny?«
»Eine stadtbekannte Förderin von Kultur und Wissenschaft, die mir über einen meiner Kontakte empfohlen wurde«, erklärte der Schweizer. »Ihr vor einigen Jahren verstorbener Mann ist einer meiner Lehrer an der hiesigen Universität gewesen. Und – wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf – sie ist Ihnen in mancher Hinsicht ähnlich.«
»Mir ähnlich?« Sarah hob die Brauen. »Wie darf ich das verstehen?« »Warten Sie es ab, liebe Freundin. Warten Sie es einfach ab …«
2.
R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
N ACHTRAG
Ich muss gestehen, dass Friedrich Hingis’ Bemerkung mich neugierig machte. Was meinte unser Schweizer Freund, als er sagte, die Gräfin Czerny wäre mir in mancher Hinsicht ähnlich?
Hatte sich seine Bemerkung auf äußere Merkmale bezogen? Oder würde ich nach all den Jahren, in denen ich mich in einer von Männern beherrschten Wissenschaftsdisziplin behauptet hatte, ausgerechnet auf dieser Reise auf eine Gleichgesinnte treffen? Auf eine Frau, die sich wie ich der Erforschung der Vergangenheit verschrieben hatte und sich dabei von den Beschränkungen, die die Gesellschaft ihrem Geschlecht auferlegen wollte, nicht abhalten ließ?
Ich ertappte mich dabei, dass mir die Vorstellung gefiel, und ich gestehe, dass ich ihr mehr Aufmerksamkeit schenkte, als es in Anbetracht der Lage angemessen gewesen
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