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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Im Grunde war es mehr eine Leiter als eine Treppe, die zudem wenig vertrauenerweckend aussah. Oppenheim griff dennoch ohne Zögern nach den schmalen Holmen und kletterte behände hinauf.
    Sarah und Gustav tauschten einen Blick. Errötend und mit einem verlegenen Räuspern gab ihr der Jüngling zu verstehen, dass er sich keineswegs vordrängen, aber freilich – aus Gründen der Diskretion – auch nicht unter ihr klettern wolle.
    Sarah musste lächeln. »Lass dir gesagt sein, Gustav Meyrink«, beschied sie ihm, »dass du in deinen jungen Jahren bereits mehr Gentleman bist als manch anderer im reifen Alter.«
    Ihr Begleiter errötete daraufhin nur noch mehr und beeilte sich, dem Rabbiner hinterherzusteigen. Ein wenig argwöhnisch blickte Sarah an der Leiter empor, die durch eine quadratische Luke in absolute Dunkelheit führte. Dann begann auch sie die waghalsige Kletterpartie.
    Die Sprossen der Leiter knarrten unter jedem einzelnen Tritt, hielten der Beanspruchung jedoch stand. Kälte und der Geruch von altem Holz drangen von oben herab, und plötzlich flammte flackerndes Kerzenlicht auf. Erst jetzt konnte Sarah erkennen, wo sie sich befanden: in einem schmalen, nur etwa zwei Fuß breiten Schacht, dessen steil nach oben verlaufende Schräge vermuten ließ, dass er sich unmittelbar unter dem Dach der Synagoge befand. Zur Linken wurde er von tönernen Dachziegeln begrenzt, gegen die der prasselnde Regen trommelte, zur Rechten von der hölzernen Schalung, die oberhalb der Sparren angebracht war. Sarah bezweifelte, dass man die Existenz des Schachts vom Inneren der Synagoge aus erahnte: Es war ein Hohlraum, ein doppelter Boden gewissermaßen, von der Art, wie die Illusionisten in den Theatern und Varietés sie bei ihren Darbietungen benutzten.
    Sarah atmete auf, als die Leiter endete.
    Gustavs helfende Hand reckte sich ihr entgegen, und durch eine weitere Luke gelangte sie in eine Kammer, die sich im obersten Winkel des Daches befinden musste. Beiderseits ragten die Schrägen auf und trafen sich in etwa sechs Fuß Höhe, sodass man nur in der Mitte aufrecht stehen konnte. Der Boden war mit geschwärzten Dielen beschlagen. Nach den Längsseiten verlor sich die Kammer in Dunkelheit, der Schein der Kerze, die Rabbi Oppenheim entfacht hatte, reichte nicht aus, sie ganz zu beleuchten.
    »Wissen Sie, was für ein Ort dies ist, Lady Kincaid?«, erkundigte sich der Rabbiner, dessen Züge im Kerzenschein noch um vieles älter und geheimnisvoller wirkten.
    »Eine geheime Kammer, möchte ich annehmen«, antwortete Sarah.
    »Das ist richtig. Wie es heißt, soll Rabbi Löw an diesem Ort den Golem versteckt haben – tagsüber, wenn er schlief und ein leichtes Opfer für seine Feinde gewesen wäre.«
    »Der Golem«, echote Sarah und blickte sich staunend um. Jede Diele, jeder einzelne Dachbalken schien aus jeder Pore den Geist der Vergangenheit zu atmen …
    »Niemand weiß, ob es wirklich so gewesen ist«, schränkte der Rabbiner ein, »aber in der Tat hat sich dieser Ort über die Jahrhunderte als gutes und verlässliches Versteck bewährt. So auch in diesem Fall.«
    Die Kerze in der Hand, wandte er sich um und ging einige gebückte Schritte, bis der flackernde Schein eine große, eisenbeschlagene Truhe erfasste, die im hintersten Winkel der Dachkammer stand. Die Außenseiten waren mit allerlei Schnitzereien und jüdischen Symbolen versehen, auf dem Deckel prangte ein Davidsstern, in dessen Mitte ein seltsam geformter, spitz zulaufender Hut zu sehen war.
    »Das Zeichen der Prager Gemeinde«, erklärte Gustav, während Oppenheim erneut unter sein Gewand griff und einen weiteren rostigen Schlüssel hervorholte.
    »Was hat es mit dem Hut auf sich?«, wollte Sarah wissen.
    »Im 14. Jahrhundert gab es einen Erlass, demzufolge alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde gezwungen wurden, ihn zu tragen. Sie sollten auf den ersten Blick als Juden zu erkennen sein.«
    »Ich hätte es nicht besser erklären können«, erkannte Rabbi Oppenheim an, während er das Schloss öffnete und den Deckel der Truhe aufstieß. »Die Seele des Menschen«, meinte er schließlich, »birgt Abgründe, die dunkler sind als jede Nacht und kälter als der Tod.«
    Er ließ den Deckel zur anderen Seite fallen, worauf eine dichte Staubwolke aufstob und sie alle zum Husten brachte. Als sich der Staub jedoch legte, konnte Sarah erkennen, was sich im Inneren der Truhe befand – und ließ vor Freude einen halblauten Schrei vernehmen.
    Es waren Schriftrollen.
    Bücher, die

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