Am Ufer Des Styx
nach jüdischer Tradition gerollt und mit wächsernen Siegeln versehen worden waren, die sie vor dem Zahn der Zeit bewahren sollten. Mit Erfolg, wie es den Anschein hatte.
»Ihr Scharfsinn hat Sie nicht getrogen, Lady Kincaid«, stellte Oppenheim dazu fest. »Ich befinde mich tatsächlich im Besitz wenn auch nicht aller, so doch einiger Schriften, die einst dem ehrwürdigen Judah Löw gehörten.«
»Wovon handeln sie?«, wollte Sarah wissen.
»Die Schriften sind ohne Ausnahme in Hebräisch gehalten. Einige davon sind gedruckt, die meisten jedoch handschriftlicher Natur, wobei es sich selbstverständlich nicht mehr um die Originale handelt. Im Lauf der Jahrhunderte wurden sie immer wieder abgeschrieben und erneuert.«
»Der Jahrhunderte?«
Oppenheim lächelte. »Einige dieser Schriften wurden vor mehr als dreitausend Jahren verfasst, Lady Kincaid. Vergessen Sie nicht, dass Sie es mit dem ältesten Gottesglauben dieser Welt zu tun haben.«
»Warum haben Sie mich hergeführt, Rabbi? Wieso zeigen Sie mir, einer Fremden, etwas, das so kostbar und wertvoll ist?«
»Weil ich erkannt habe, dass Sie eine Suchende sind, Lady Kincaid. Und weil sich hier« – er deutete auf die Schriftrollen, die dicht nebeneinander in der Truhe lagen – »vielleicht ein paar Antworten befinden. Sind Sie des Hebräischen mächtig?«
»Ich bedaure.« Sarah schüttelte den Kopf.
»So werde ich Ihnen erzählen, wovon diese Schrift berichtet.« Ohne Zögern griff er mitten hinein und zog eine der zahllosen Rollen hervor, was bewies, dass er mit dem Inhalt der Truhe besser vertraut war, als der Staub und der entlegene Standort es vermuten ließen.
»Was ist das?«, erkundigte sich Sarah.
»Ein uraltes Dokument. Im Jahr 246 Ihrer vorchristlichen Zeitrechnung wurde es von einem jüdischen Gelehrten namens Josephos verfasst, der sich zu dieser Zeit am Hof von Ptolemaios II. aufhielt.«
»In Alexandria?« Sarah wurde hellhörig.
»So ist es. Nach allem, was wir wissen, muss Josephos ein Mann vieler Talente gewesen sein. Er unterrichtete an der Bibliothek und soll zu jenen Gelehrten gehört haben, die die Lehren der Thora ins Griechische übersetzten.«
»Die Septuaginta«, sagte Sarah.
»Sind Sie mit den damaligen Vorgängen vertraut?«
»Allerdings«, bestätigte sie, während eine Unzahl von Erinnerungen in ihr Bewusstsein schwappte – und längst nicht alle davon waren willkommen … »Um den in Alexandria ansässigen Juden entgegenzukommen, die des Hebräischen oder Aramäischen häufig nicht mehr mächtig waren, ließ Ptolemaios II. das Alte Testament ins Griechische übertragen. Zu diesem Zweck warb er siebzig – einige Quellen sprechen auch von zweiundsiebzig – jüdische Gelehrte an, die das Werk, der Überlieferung des Aristeas zufolge, an zweiundsiebzig Tagen übersetzten.«
»Das alles ist richtig. Wie kommt es, dass Sie sich so gut mit diesen Dingen auskennen?«
»Ich bin in Alexandria gewesen«, erwiderte Sarah nur – was sonst hätte sie auch erwidern sollen? Hinzufügen, dass sie sich zusammen mit ihrem Vater auf die Suche nach der verschollenen Bibliothek begeben hatte? Dass es eben jene Septuaginta gewesen war, die ihnen den entscheidenden Hinweis gegeben hatte? Dass sie Gardiner Kincaids Tod in den Tiefen Alexandrias nicht vergessen konnte?
Der Rabbiner schien erneut ihren Schmerz zu fühlen, denn er fragte nicht weiter nach. »Wenn Sie mit der Geschichte des Ptolemäerreiches vertraut sind«, fuhr er stattdessen fort, »dann wissen Sie sicher auch, was im Jahr 246 geschah.«
»Wenn ich mich recht entsinne, starb Ptolemaios in diesem Jahr …«
»Auch das entspricht den Tatsachen. Auf dem Sterbebett war Ptolemaios II. von seinen Beratern und Vertrauten umgeben, darunter auch Josephos, dem man nach Beendigung seiner Übersetzungsarbeit die Rückkehr nach Jerusalem verwehrt hatte. Als Ptolemaios’ persönlicher Geschichtsschreiber und Chronist war er in Alexandrien geblieben und zeichnete dessen Regierungszeit auf.«
»Tatsächlich?« Verwundert hob Sarah die Brauen. »Über eine solche Chronik ist mir nichts bekannt …«
»Weil sie im Lauf der Jahrtausende verloren ging. Nur diese eine Rolle blieb erhalten – sie schildert in allen Einzelheiten die letzten Stunden in Ptolemaios’ Leben.«
»Was genau steht in der Rolle?«, hakte Sarah nach, die sich noch immer nicht vorstellen konnte, was all das mit dem Golem oder mit den Antworten zu tun haben sollte, nach denen sie suchte.
»Josephos schreibt, dass
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