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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Stimme dutzendfach von dem Gewölbe wider, geisterte als wisperndes Echo umher, bis sie schließlich in den Tiefen der Röhre verhallte. Den grob gehauenen Steinen nach zu urteilen, aus denen der etwa mannshohe und ebenso breite Tunnel zusammengefügt war, existierte er schon seit langer Zeit. Der Stollen hingegen, der vom Friedhof herüberführte, schien erst sehr viel später angelegt worden zu sein, und Sarah bezweifelte auch, dass er ein offizieller Bestandteil der Prager Kanalisation war. Dem schlechten Zustand der Röhre nach zu urteilen, die von Rissen durchzogen war und von deren Decke Moosfetzen und Ranken von Wurzelwerk hingen, lag die letzte Wartung des Tunnels schon lange zurück. Eine gute Voraussetzung für jemanden, der hier unten ungestört sein wollte …
    Erneut dachte Sarah an die Worte des Rabbiners und an das Versteck, von dem er gesprochen hatte. Ein »Zimmer ohne Zugang«, hatte er es genannt. »Nun«, knurrte Sarah, »offenbar habe ich den Zugang gefunden.«
    Dem Gestank zum Trotz folgte sie der Fließrichtung des Abwassers und gelangte so in eine noch größere Röhre, in der sich der Inhalt mehrerer Kanäle sammelte. Entsprechend nahm das Rauschen zu, und der Gestank wurde so unerträglich, dass Sarah ihren durchnässten Schal vors Gesicht schlug, um die Luft ein wenig zu filtern. Die Laterne vorhaltend, ging sie weiter und musste sich hüten, auf dem schmalen, von Schmutz und Schlick übersäten Vorsprung nicht auszugleiten. In der Finsternis sah sie gelbe Augen funkeln, deren Besitzer quiekend davonstoben, als der Lichtkreis der Laterne sie erreichte: Ratten, die diesen düsteren Ort wohl zu Tausenden bevölkerten.
    Der Gedanke gefiel Sarah nicht, aber sie zwang sich dazu, weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen und dem Tunnel zu folgen. Unvermittelt nahm sie wahr, dass sich zum Rauschen des Wassers ein weiteres Geräusch gesellt hatte, das nicht recht an diesen Ort passen wollte: ein dumpfes, metallisches Hämmern, als ob ein Schmied am Amboss arbeitete.
    Der durchdringende Klang kam noch tiefer aus der Röhre, sodass Sarah wohl oder übel weitergehen musste, wenn sie seinen Ursprung ergründen wollte. Wohl war ihr längst nicht mehr dabei. Zwar war sie nach wie vor entschlossen weiterzugehen, jedoch hatte sie sich selten so verloren und einsam gefühlt wie in diesem Augenblick. Weder wusste sie, wo sie sich befand, noch wohin die Reise führte. Sie umfasste weiter fest die Waffe in ihrer Rechten, aber sie kam sich dabei vor wie ein Ertrinkender, der sich an einen Strohhalm klammerte. Wenn sie sich in diesem unterirdischen Labyrinth verirrte, würde der Colt Frontier ihr herzlich wenig nützen …
    Dass Sarah sich keineswegs verirrt hatte, wurde ihr bewusst, als sie der Röhre um eine enge Biegung folgte – denn dort befand sich eine Öffnung, die offenbar nachträglich in die Wölbung der Tunnelwand gehauen worden war. Der Stollen, der sich anschloss und dessen Ende im Laternenschein nicht zu sehen war, ähnelte in der Bauweise dem, durch den Sarah in die Kanalisation gelangt war; und das Gitter, das ihn normalerweise verschloss, stand ein Stück weit offen.
    Ihre Neugier drängte sie, sogleich einzutreten und den Stollen zu erkunden; ihre Vorsicht jedoch, die nach Shakespeares Worten der bessere Teil der Tapferkeit war, hielt sie zurück.
    War sie dabei, sich in eine Falle zu begeben?
    Sir Jeffreys warnende Worte klangen ihr noch in den Ohren, ebenso wie die der Gräfin. Zwar vermutete Sarah, dass der Hüne nicht gesehen hatte, wie sie ihm über den Friedhof folgte, allerdings blieb ein Rest an Zweifel. Zweifel jedoch würden Kamal nicht die Rettung bringen, sondern nur Mut und Entschlossenheit – also fasste sie sich ein Herz, stieß das Gitter auf und schlüpfte hinein.
    Der Gang war niedrig, die Luft darin abgestanden und so übel riechend, dass es Sarah fast den Magen umdrehte. Dennoch folgte sie ihm unverzagt, den Revolver weiter schussbereit in der Hand. Über eine Reihe von Stufen führte der Stollen steil in die Tiefe. Hier bestanden die Wände nicht mehr aus morschem Holz, sondern aus massivem Gestein, und je tiefer Sarah gelangte, desto kühler wurde es und desto besser die Luft. Der Stollen beschrieb eine Biegung, und plötzlich konnte Sarah sein Ende erkennen, von dem ihr schwacher, flackernder Lichtschein entgegendrang.
    Abermals beschleunigte sich ihr Pulsschlag, ihre Handfläche um die Griffschalen des Colts wurde feucht. Sarah hielt den Atem an. Würde sich das

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