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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Seite gab es einen weiteren Durchgang, den Sarah benutzte und der wiederum auf eine, allerdings etwas breitere Gasse mündete.
    Bis hierher schien offenkundig, welchen Weg der Golem eingeschlagen hatte. Aber wohin hatte er sich dann gewandt?
    Sarah blickte zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Passanten, die sie fragen konnte, gab es nicht, sie würde sich also auf ihr Gespür verlassen müssen. Die Worte des Rabbiners kamen ihr in den Sinn, der von einem »Zimmer ohne Zugang« gesprochen hatte, in dem sich der Golem verbarg und das nicht gefunden werden konnte, sofern es nicht gefunden werden wollte …
    Sie biss sich auf die Lippen und schalt sich eine Närrin dafür, dass sie das Ziel aus den Augen verloren und eine einmalige Gelegenheit vergeben hatte …
    … als ihr etwas auffiel.
    Je mehr ihre Augen sich an das spärliche Licht gewöhnten, desto deutlicher glaubte sie, auf der linken Seite der Gasse, jenseits von Dunkelheit und Regenschleiern, eine Mauer zu erkennen. Sarah ging einige Schritte, um sich Gewissheit zu verschaffen.
    Tatsächlich.
    Die Mauer war etwa mannshoch, der Putz an vielen Stellen abgeblättert, sodass sie einen schäbigen Eindruck machte. Jenseits davon waren keine Häuser zu erkennen. Wahrscheinlich handelte es sich also nicht um einen weiteren Hinterhof. Schon viel eher – Sarah erinnerte sich an die Worte des jungen Gustav Meyrink – waren es die Mauern des jüdischen Friedhofs, vor denen sie stand.
    Ob sich der Golem dorthin zurückgezogen hatte?
    Es schien Sarah die richtige Wahl zu sein. Die Arme vor der Brust verschränkt und die Hand mit dem Revolver unter dem Mantel, damit die Waffe durch das Regenwasser keinen Schaden nahm, folgte sie dem Verlauf der Mauer, bis sie an ein Tor aus rostigen Eisenstäben gelangte. Normalerweise hätte es um diese späte Stunde fraglos geschlossen sein müssen, aber einer der beiden Torflügel stand weit offen, und auf dem aus gestampfter Erde bestehenden Weg, der in den Friedhof führte, konnte Sarah Abdrücke im Boden erkennen, die nicht nur von überdurchschnittlicher Größe waren, sondern auch so frisch, dass der Regen sie noch nicht verwischt hatte.
    Ein triumphierendes Lächeln glitt über ihre Züge. Sie hatte die Fährte des Golems wieder gefunden …
    Sarah durchschritt das Tor und betrat den alten Friedhof, der sich im dichten Regen als Meer verschieden geformter, schmaler und breiter, hoher und niedriger, schmuckloser und mit Ornamenten geschmückter, jedoch stets alter und brüchiger Grabsteine präsentierte, das sich von einem dunklen Horizont zum anderen erstreckte. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und hätte viel darum gegeben, eine Laterne zur Hand zu haben. Außerhalb des Friedhofs hatte die Straßenbeleuchtung zumindest noch für spärliches Licht gesorgt, innerhalb der Friedhofsmauern jedoch herrschte beinahe völlige Finsternis.
    Sarah musste warten, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, um überhaupt noch etwas erkennen zu können. Dann folgte sie rasch der Spur. Eile war geboten, denn schon war der Regen dabei, die Abdrücke wieder zu beseitigen. Vornüber gebeugt, damit sie trotz der schlechten Sichtverhältnisse die Spur nicht aus den Augen verlor, huschte Sarah über den nächtlichen Friedhof. Mehrmals hielt sie inne, wenn der Regen die Fährte unleserlich gemacht hatte, aber es gelang ihr jedes Mal, sie wiederzufinden und weiterzuverfolgen.
    Und unvermittelt änderte sich die Spur.
    Statt zielstrebig einen Fuß vor den anderen zu setzen, wie er es zuvor getan hatte, schien der Vermummte stehen geblieben zu sein und, der Tiefe der Abdrücke nach zu urteilen, für einen Augenblick verharrt zu haben. Sarah richtete sich auf – und erstarrte, als sie in der Dunkelheit die Umrisse eines großen Grabsteins erkannte.
    Sie erinnerte sich an die Schwefelhölzer in ihrer Manteltasche. Vorausgesetzt, sie waren vom Regen noch nicht völlig durchnässt, würden sie zumindest einen Augenblick lang für Helligkeit sorgen. Sarah holsterte den Revolver, kramte einige der kleinen Holzstäbchen hervor und versuchte ihr Glück – mit Erfolg. Blaue Funken stoben, und Sarah hielt eine kleine Flamme in Händen, die immerhin genügend Licht verbreitete, um den Grabstein und die Inschrift darauf aus der Dunkelheit zu reißen.
    Das Grabmal war aufwendig gearbeitet, was darauf hindeutete, dass hier eine bedeutende Persönlichkeit liegen musste. Auch die kleinen Steine, die jemand als Zeichen der

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