Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
Wertschätzung darauf platziert hatte, legten diesen Schluss nahe. Obgleich Sarah die hebräischen Schriftzeichen auf dem Stein nicht zu entziffern vermochte, glaubte sie zu erahnen, wessen Grab dies war, nämlich das von Judah Löw, jenem Rabbiner, der der Überlieferung nach vor mehr als dreihundert Jahren den Golem zum Leben erweckt hatte.
    War die Kreatur hierher gekommen, um einen Augenblick am Grab ihres ursprünglichen Schöpfers zu verharren?
    In diesem Augenblick verlosch das Streichholz, und Sarah war wieder von Dunkelheit umgeben. Ein leiser Schauder durchrieselte sie, und trotz der gebotenen Eile konnte sie nicht anders, als sich rasch zu bücken, einen Stein vom Boden aufzulesen und ihn ebenfalls auf den Grabstein zu legen. Und dabei inständig zu hoffen, dass das Wunder des Golem auch Kamal würde helfen können.
    Ein knackendes Geräusch riss sie jäh aus ihren Gedanken.
    »Wer ist da?«
    Blitzschnell fuhr sie herum, die Hand wieder am Griff der Waffe. Um ein weiteres Streichholz zu entfachen, blieb keine Zeit. Atemlos und mit pochendem Herzen stand Sarah in der Dunkelheit, sah die Grabsteine, die sich im Regen als drohende Schemen abzeichneten – und erstmals, seit sie den alten Friedhof betreten hatte, spürte sie Angst.
    »Ist da jemand?«
    Sarah schluckte, ihr Mund fühlte sich trocken an. Gehetzt blickte sie hierhin und dorthin, erwartete fast, dass sich ein hünenhafter Schatten auf sie stürzen würde, aber nichts dergleichen geschah. Dafür flammte in der Dunkelheit plötzlich Licht auf.
    Sarah zuckte zusammen, als sie in etwa fünfzig Yards Entfernung einen gelblichen Schein gewahrte, der matt durch den Regen drang: das Licht einer Petroleumlampe, das durch die quadratischen Fenster einer Hütte fiel, die am Rand des Friedhofs stand.
    Das Haus des Friedhofswächters …
    Unvermittelt wurde das Licht gedämpft, jedoch nicht, weil die Laterne gelöscht worden wäre, sondern weil sich ein großer Schatten davor schob und sie für einen Moment verfinsterte.
    Der Golem!
    Sarah verzichtete darauf, ein weiteres Streichholz anzustecken. Im Laufschritt, so schnell der unebene und durchweichte Boden es zuließ, eilte sie den Weg hinab auf die Hütte zu. Der unheimliche Schatten war bereits wieder verschwunden, aber Sarah war sicher, nun endlich gefunden zu haben, wonach sie suchte. Ihre Furcht war in den Hintergrund getreten zugunsten des Forschergeists, der einmal mehr von ihr Besitz ergriffen hatte und noch beflügelt wurde von der Hoffnung, Kamal zu retten …
    Atemlos rannte Sarah durch den strömenden Regen. Angesichts der niedrigen Temperaturen hätte sie erbärmlich frieren müssen, aber sie nahm weder die Kälte noch ihre durchnässten Kleider wirklich wahr. Noch im Laufen zückte sie den Revolver. Im nächsten Moment erreichte sie die gedrungene, an die Mauer des Friedhofs gebaute Hütte.
    Rasch huschte Sarah unter den Dachüberstand. Mit dem Rücken an die Wand gepresst, näherte sie sich einem der Fenster und warf einen vorsichtigen Blick hinein.
    Ein einfach gezimmerter Tisch, auf dem die Laterne stand, dazu zwei Stühle. Auf dem Boden eine Truhe mit einer verbeulten Blechschüssel darauf, gegenüber eine karge Pritsche. Und schließlich ein gusseiserner Ofen, dessen blechernes Abzugsrohr nach oben und durch die Decke führte.
    Von dem Hünen war weit und breit nichts zu sehen.
    Hielt er sich bewusst verborgen?
    Ahnte er, dass sie ihm folgte?
    Um ihre Nervosität zu bekämpfen, zwang sich Sarah, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Sich unter das Fenster duckend, schlich sie weiter zum Eingang. Die Tür war nur angelehnt, wohltuende Wärme drang von innen heraus …
    Einen Augenblick lang zögerte Sarah, dann fasste sie sich ein Herz. Es klickte leise, als sie den Spannhahn des Revolvers zurückzog, um notfalls sofort das Feuer eröffnen zu können – dann trat sie gegen die Tür.
    Geräuschvoll schlug das morsche Blatt auf und gab den Weg frei. Sarah musste den Kopf einziehen, um den niederen Türsturz zu passieren, dann stand sie in der Hütte. Mit dem Lauf der Waffe taxierte sie alle vier Ecken der schäbigen Bleibe, bis sie sichergehen konnte, dass sich tatsächlich niemand darin aufhielt. Aber wo, in aller Welt, war der Hüne geblieben? Hatte sie nicht noch vor wenigen Augenblicken seinen Schatten gesehen?
    Verwundert blickte sich Sarah um, nahm die schmucklosen Wände und die brüchigen Dielen in Augenschein, die unter jedem ihrer Schritte ächzten. Ihr Blick blieb an einer Wasserlache

Weitere Kostenlose Bücher