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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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erkundigte sich der Zyklop, während Sarah weiter unverwandt auf ihn starrte. Im Vergleich zu jenem aus Alexandria schien dieser Einäugige noch ungleich größer und kräftiger zu sein, ein wahrer Koloss, den man nicht von ungefähr für den wiedergekehrten Golem halten konnte. »Hat Ihnen mein Anblick die Sprache verschlagen?«
    »Keineswegs«, widersprach Sarah mit einer Spur von Trotz. »Ich versuche nur zu verstehen …«
    »Was versuchen Sie zu verstehen, Lady Kincaid? Warum es mich gibt? Was ich an diesem Ort zu schaffen habe? Warum Sie nun schon zum wiederholten Mal einem von meiner Art begegnen?«
    »Etwas in der Art«, gestand sie mit bebender Stimme.
    »Hat Charon es Ihnen nicht gesagt? Sollte er vergessen haben zu erwähnen, dass es noch mehr von unserer Art gibt? Dass wir einst die Mittler waren zwischen Göttern und Menschen?«
    »Nein«, räumte Sarah ein, »er hat mir durchaus von diesen Dingen erzählt …«
    »Aber Sie haben ihm nicht geglaubt, nicht wahr? Lieber haben Sie seinem Mörder Gehör geschenkt.«
    »Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht wissen, dass Mortimer Laydon ein Verräter war.«
    »Wirklich nicht?« Das eine Auge schloss sich in stillem Vorwurf. »Hätten Sie auf Ihr Herz gehört, hätten Sie die Wahrheit schon viel früher erkannt.«
    »Das ist nicht wahr«, widersprach Sarah heftig, nicht zuletzt deshalb, weil dieser Vorwurf eine wunde Stelle traf. Wie oft hatte sie sich im Nachhinein gefragt, ob sie den Tod ihres Vaters hätte verhindern können …
    »Warum haben Sie uns gefangen?«, erkundigte sich Hingis, der sich vollends von seinen Fesseln befreit hatte und zum Gitter kroch. Infolge der straff gebundenen Stricke waren seine Beine so schlecht durchblutet, dass sie ihm nur zögernd gehorchten.
    »Weil es einige Dinge gibt, die ich Ihnen mitteilen muss«, erwiderte der Zyklop leise.
    »Das ist alles?« Sarah schnaubte verächtlich. »Und deshalb halten Sie uns gefangen?«
    »Es schien mir der einfachste Weg zu sein.«
    »Für Sie vielleicht.« Sarah nickte grimmig. »Sie haben dabei nur eine Kleinigkeit vergessen – nämlich, dass ich noch immer meine Waffe habe.« Demonstrativ hob sie den schussbereiten Revolver, um ihn in Erinnerung zu bringen. Der Einäugige jedoch lachte nur.
    »Was ist daran so erheiternd?«
    »Sie, Lady Kincaid, denn Sie haben den Ernst der Lage noch immer nicht begriffen. Wenn Sie mich erschießen, was wäre gewonnen? Ich würde zusammenbrechen und verbluten, und Sie wären gezwungen, den Rest Ihrer Tage in diesem Käfig zu verbringen. Glauben Sie mir, hier unten würde Ihre Schreie niemand hören.«
    »Man würde nach uns suchen«, entgegnete Sarah voller Überzeugung.
    »Hier?« Ein freudloses Grinsen huschte über die unheimlichen Züge des Zyklopen. »Wohl kaum. Zudem – wer sollte Ihnen verraten, wie Sie Ihren geliebten Kamal retten können, wenn Sie mich erschießen?«
    »Sie wissen von Kamal?«, erkundigte sich Hingis verwundert.
    »Natürlich weiß er es«, knurrte Sarah wütend. »Er weiß alles, denn er gehört zu denen, die Kamal vergiftet haben. Was wissen Sie über Kamal? Sagen Sie es mir!«
    »Sie sind auf der richtigen Spur, Lady Kincaid«, antwortete der Hüne bereitwillig. »Hinter allen Mythen der Vorzeit steckt ein realer Kern – ich selbst bin der beste Beweis dafür. Oder hätten Sie geglaubt, dass die Zyklopen der antiken Überlieferung tatsächlich existierten und dass es sie noch immer gibt?«
    »Das stimmt nicht ganz«, wandte Hingis ein. »Die Zyklopen der homerischen Sage waren Riesen, die auf entlegenen Inseln lebten. Auf seiner Irrfahrt begegnete der griechische Held Odysseus einem von ihnen und blendete ihn.«
    »Übertreibungen, in die Welt gesetzt von jenen, die uns um unsere Stärke beneideten. Verfolgt und gejagt wurden wir, bis nur noch wenige von uns übrig waren. Hoch in den Bergen, am entlegensten Ort dieser Welt, mussten wir uns verbergen, um zu überleben.«
    »Eine schöne Geschichte«, erwiderte Sarah kalt. »Aber weder erklärt sie, warum Sie uns gefangen haben, noch, was Sie eigentlich von uns wollen.«
    »Ich will Ihnen helfen«, erklärte der Einäugige.
    »Ich glaube Ihnen nicht.«
    »Das sollten Sie aber – denn ich bin der einzige Freund, der Ihnen geblieben ist.«
    »Ich weiß inzwischen, dass Sie und Ihresgleichen nicht für den Tod meines Vaters verantwortlich sind«, entgegnete Sarah. »Aber nicht der Mörder meines Vaters zu sein lässt Sie nicht zwangsläufig zu meinem Verbündeten werden,

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