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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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haften, die sich vor der Truhe auf dem Boden gebildet hatte. Ihr erster Gedanke war, dass das Dach wohl undicht wäre und es sich um Regenwasser handelte, doch ein Blick hinauf zur Decke bestätigte diese Vermutung nicht. Obwohl die Hütte uralt sein mochte, erfüllten die Schindeln pflichtbewusst ihren Dienst. Woher also kam das Wasser?
    Sarah ging dem naheliegendsten Gedanken nach und schaute sich die Blechschüssel an, die auf der Truhe stand und deren weißes Emaille an einigen Stellen abgeplatzt war. Das Innere der Schüssel war nass, was darauf schließen ließ, dass sich das Wasser auf dem Boden eben noch darin befunden hatte – wie aber war es auf die Dielen gelangt?
    Im Grunde gab es nur eine Antwort – jemand hatte die Truhe geöffnet und die Schüssel dabei zum Überlaufen gebracht.
    Mit einer Hand griff Sarah nach dem Deckel und versuchte, ihn anzuheben, doch er rührte sich keinen Fingerbreit. Notgedrungen steckte sie den Revolver weg und versuchte es mit beiden Händen, aber der Deckel der Truhe ließ sich noch immer nicht bewegen. Da kein Riegel oder etwas Ähnliches daran zu erkennen war, musste dies bedeuten, dass es einen verborgenen Mechanismus gab!
    Fieberhaft überprüfte Sarah zunächst den Deckel selbst und dann die Wände der Truhe, konnte jedoch nichts Verdächtiges daran entdecken. Nachdem sie vergeblich gesucht hatte und sich schon eine Närrin schelten wollte, dass ihr ein derartig abwegiger Gedanke gekommen war, fiel ihr Blick abermals auf die Schüssel – und in einem letzten, halbherzigen Versuch zog sie daran.
    Das Ergebnis war frappierend.
    Das Blechgefäß, das nicht etwa auf der Truhe abgestellt war, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte, sondern darauf befestigt war, kippte mit einem ratschenden, mechanischen Geräusch nach vorn – und im nächsten Moment klappte, begleitet vom Rattern eines verborgenen Kettenzugs, der Deckel der Truhe auf. Verblüfft wich Sarah einen Schritt zurück, ehe sie sich neugierig vorbeugte, um einen Blick ins Innere des geheimnisvollen Kastens zu werfen. Dabei erlebte sie eine weitere Überraschung.
    Weder hatte die Truhe einen Boden, noch war sie das, was sie zu sein vorgab – vielmehr bildete sie den Zugang zu einem rechteckigen Schacht, der lotrecht in unergründliches Dunkel führte und aus dem übel riechende Dämpfe quollen, die Sarah die Nase rümpfen ließen.
    Dorthin also war der Hüne verschwunden!
    Einen Augenblick erwog Sarah, Hilfe zu holen. Aber an wen hätte sie sich zu dieser Stunde und bei solchem Hundewetter wenden sollen? Sie hätte einiges darum gegeben, Hingis oder Cranston bei sich zu haben, aber ihre Gefährten waren nun einmal nicht zur Stelle, und so lag es an ihr, sich auf das Wagnis einzulassen und das unbekannte Terrain zu erkunden …
    Kurzentschlossen zückte sie ihren Revolver. Dann ging sie zum Tisch und griff nach der Laterne. Dergestalt ausgerüstet, stieg sie in die Truhe und folgte der Leiter in die unergründliche Tiefe.
    Mit jeder Sprosse, die sie hinabstieg, nahm der Gestank zu. Gleichzeitig vernahm Sarah ein fernes Rauschen. Sie erreichte den Grund des Schachtes, der an die fünf Yards tief sein mochte und dessen Wände mit morschen Holzdielen verkleidet waren. Unten gab es einen schmalen Stollen, der, so weit Sarah es beurteilen konnte, unter der Ummauerung des Friedhofs hindurchführte.
    Die Laterne in der einen, die Waffe in der anderen Hand, folgte Sarah dem Gang, der etwa drei Fuß breit war und gerade hoch genug, dass sie aufrecht darin stehen konnte. Wie der vermummte Hüne sich hindurchgezwängt haben mochte, war Sarah ein Rätsel. An einem der Holzbalken, die in regelmäßigen Abständen die Decke stützten, fand sie einen Fetzen schwarzer Wolle: ein Stück seines Umhangs, zweifellos, und ein weiteres Indiz, dass er diesen Weg genommen hatte.
    Sarah hielt den Atem an. Der übel riechende Odem, der die Luft tränkte, nahm zu, je weiter sie in den Stollen eindrang, und auch das Rauschen wurde lauter. Wie weit sie dem Gang gefolgt war, als er schließlich in eine große, steingemauerte Röhre mündete, war unmöglich zu sagen, aber Sarah schätzte, dass sie sich längst nicht mehr unter dem Gebiet der alten Josephsstadt befand. Denn der etwa eineinhalb Yards breite, stinkende Fluss, der zu ihren Füßen verlief, war ohne Frage ein Abwasserkanal!
    »Das also ist des Rätsels Lösung«, entfuhr es ihr. »Ich befinde mich in der Kanalisation …«
    Obwohl sie nur geflüstert hatte, hallte ihre

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