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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Chirbes
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werden müssen, wo man leben kann und an einem Sonntagmorgen der Musikkapelle zuhören und den Kindern beim Spielen zusehen, ohne dabei das Eigene verlassen zu müssen. Ich dachte, dass ich sogar ihn, Wilson, nicht brauchte, wer weiß, wo er zu dieser Stunde war, weil er Samstagnacht nicht nach Hause gekommen und bis Montag nicht aufgetaucht ist. Nur alleine diese Musik hören, mit den Kindern. Aber Liliana, nicht weinen, wenn du weinst, weiß ich nicht, was ich für dich tun kann, dann möchte ich dich am liebsten berühren, dich in meine Arme nehmen, als wärest du ein kleines Mädchen, komm, komm, lass mich diese Tränen trocknen, gib her, uff, ich weine manchmal auch, aber ich hab’s nicht gern, wenn man mich dabei sieht. Wein nicht, mein Mädchen. Was ist passiert? Hat er alles in zwei Nächten ausgegeben? Wie letzten Monat? Ist wieder das Gleiche passiert? Oder befürchtest du es nur, weil er am Freitag seinen Lohn bekommen hat und du bis jetzt keinen Cent davon gesehen hast? Mach dir keine Sorgen, wirwerden schon eine Lösung finden, wo Leben ist, ist auch Hoffnung. Komm schon, heb das Köpfchen, schau mich an. Wie viel bräuchtest du denn? Aber wisch dir doch die Tränen ab. Nein, keine Küsse (ich lüge, küss mich, auch wenn es nur auf die Wange wie bei für einen Vater ist). Wir müssen doch jeder für den anderen tun, was wir können. Ja, ja. Weißt du, leg doch mal, wenn du kommst, die Ohrringe und den Anhänger an, ich möchte sie gerne sehen, du siehst so schön damit aus, auch wenn du zum Arbeiten und nicht zum Feiern kommst. Liliana in meinen Armen, deine Lippen küssen mich genau am Kinn, ein paar tränenfeuchte Küsse, und der Kontakt mit deinem Körper, der sich schutzsuchend an den meinen schmiegt, während ich eine unendliche Zärtlichkeit verspüre, ein körperliches Mitgefühl, denn ich spüre, wie mein Blut zusammenströmt, es ist mir unangenehm, ich weiß nicht, wie ich mich bewegen soll, wie ich ihrem Körper ausweichen soll, fürchte ich doch, sie könnte diese unwillkürliche Bewegung des Fleischs bemerken, die das beschmutzen würde, was wahrhaftes Mitfühlen ist, du bist mein kleines Mädchen, Liliana, ich will dich beschützen, ich kann dich nicht leiden sehen, das tut mir weh, sage ich, aber Leib und Seele scheinen nicht aufeinander abgestimmt zu sein, oder ist dieses Mitfühlen etwa nur eine abartige Form des Begehrens? Die Umarmung, die Fülle jener Tage, ist heute ein Hohlraum, Leere, eine Empfindung, wie sie so ähnlich eine Frau nach der Entbindung haben muss, im Inneren geleert, ein Hohlkörper, eine Glasglocke. Das Gefühl der Leere, Liliana, die Schreinerei, und dann du, diese Stille, aber auch ein Gefühl der Ruhe, endlich in Frieden gelassen zu werden: Jetzt hämmern mir nicht mehr die Rechnungen, die Fristen, die Wechsel, Zeichnungen, Zahlen im Kopf, nichts davon, ich leide nicht mehr, nicht einmal die Rührung beim Blick auf ihre tränennassen Augen, bei der Berührung ihres Körpers, dieses Zurücksinken ins Reich des Schattens, wenn sie bei halb geöffneter Tür zum Abschied winkte, nicht einmal du bist mir geblieben; ich hab mich schnell umgedreht und bin in die erstbeste Straße eingebogen,als ich sie neulich mit ihrem Mann in der Stadt sah, seine Pranke, die Pranke von diesem schwarzbraun gebrannten Fettkloß auf ihrer Schulter, und mein Geld zahlt die Zuneigung, die sie zu verbinden scheint: Sie liefen und lachten miteinander, und er küsste sie drei oder vier Mal, und sie lachte und küsste zurück. Nichts davon darf mich etwas angehen, Ruhe, Gewissheit ist gefragt. Die Gelassenheit, die einen Perversen nach dem Tag seiner Kastration erfüllt, aber es so zu bezeichnen hat andere, schmutzige Implikationen, wenn es sich doch in diesem Fall – wie auch damals – um ein väterliches Gefühl handelt: eine Firma, ein Handwerksbetrieb, die den Bach runtergeht, muss für einen Macho eine ähnliche Erfahrung sein wie eine Abtreibung für eine Frau. Ist es besser so, Leonor, wir beide vereint durch vergleichbare Erfahrungen? Du und ich vereint in einem rauschenden Wasser, das Teile unseres Inneren fortschwemmt. Schließlich und endlich ist Scheiße auch ein Teil unseres Inneren. Zuweilen befrachten wir die Dinge mit einer Bedeutung, die sie nur in unserem Kopf haben. Wie viel bräuchtest du denn, Liliana? Sag, Liliana, sind fünfhundert Euro genug? Nimm nur, ich gebe dir besser siebenhundert, damit du nicht in Schwierigkeiten kommst. Du wirst sie mir schon nach und nach

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