Am Ufer (German Edition)
und wenn sie vor allem nicht nervös werden und sich nicht einschüchtern lassen, den Prozess durchaus gewinnen können. Also sind sie alle in einer weit besseren Lage als ich, der sie nun doch verlassen wird, aber nicht, um vom gesunkenen Schiff zu irgendeiner Küste zu schwimmen, auch nicht um der Befriedigung willen, ihnen eine lange Nase zu drehen. Sie sind nur ein kleiner Teil der Theaterkompanie, von der ich mich verabschiede, weil das Stück, das mein Vater und ich aufführen, es so verlangt. Mit dem täglich Brot sollen die einen ihr Arbeitslosengeld verspachteln, die anderen ihre Wut und meine Geschwister ihre Besitztümer, falls es ihnen denn gelingt, sie den Fängen der Bank zu entreißen. Mir soll’s recht sein. Meine Zukunft wäre eine Pension, von der sich der Teufel alles einstecken würde, was über sechshundert oder siebenhundert Euros ginge, um eine Schuld abzustottern, die auch in hundert Jahren nicht zu begleichen wäre, item, dazu käme eine mehr als wahrscheinliche Gefängnisstrafe wegen Dokumentenfälschung, Betrug, unrechtmäßiger Aneignung, was weiß ich, wie das Strafgesetzbuch meine Verfehlungen genau bezeichnet. Ich habe nicht darinnachgelesen, bevor ich all das unterschrieb, was ich unterschrieben habe. Und jetzt, mit siebzig, seh ich mich nicht als Knastbruder in Fontcalent mein Leben fristen; im Winter mag’s ja noch angehen, wenn ein bisschen Sonne den Hof wärmt und du für die Nacht ein paar Decken hast; aber im Sommer muss es unerträglich sein, eine Pfanne, du brätst in deinem eigenen Fett. Álvaros Zukunft ist verbaut, aber nicht wegen meiner Machenschaften oder meines Scheiterns. Er hat sich das zur gleichen Zeit wie ich eingebrockt, die Zukunft ist verbaut, weil er seine Wünsche über vierzig Jahre lang an eine verschlafene Schreinerei ohne Zukunft gebunden hat. Kann ein aktiver Arbeiter ein fauler Sack sein? Álvaro ist der schlagende Beweis dafür. Sich abrackern aus purer Trägheit, aus Bequemlichkeit, aus Willensschwäche, weil man nicht die dreißig Meter gehen will, um eine andere Arbeitsstelle zu finden, die lehrreicher, aufregender ist, mehr Perspektiven bietet und sogar besser bezahlt ist. Solche Typen nannte man früher treue Arbeiter, vorbildliche Angestellte, und sie bekamen eine Medaille aus Messinggold, wenn sie in Rente gingen: fünfzig Jahre in derselben Firma, um den Hals das Band und die Medaille auf der Brust. Was für ein Verdienst. Ein fauler Kerl, der fünfzig Jahre lang den Arsch auf denselben Stuhl gesetzt hat oder die Ellbogen auf dieselbe Maschine. Heute wird Mobilität prämiiert. Treue wird als Unlust verstanden, als Mangel an Unternehmungsgeist; honoriert wird, wenn du deinen sukzessiven Chefs untreu wirst und jede Untreue dich ökonomisch besserstellt und einen Aufstieg bedeutet. Auch Ahmed und Jorge haben zwei geruhsame Jahre vor sich, um ihr Leben wieder neu zu gestalten, bei Joaquín weiß ich nicht, in welcher Lage er sich befindet, ob ihm noch Reste von der Arbeitslosenzeit aus früheren Beschäftigungen bleiben, aber dann ist da ja noch die Familienhilfe von gut vierhun dert Euro für Langzeitarbeitslose und die Beschäftigungsmaßnahmen der Stadtverwaltung, Reinigungsdienste, Gärtnerei – davon versteht er etwas – und Maurerarbeiten. Julio wir diese Ausflucht nicht haben, aber das ist seine eigene Schuld, er war es, der schwarz arbeitenwollte, weil es für ihn günstiger war, noch das Arbeitslosengeld und dann die Familienhilfe oder die Stütze für Langzeitarbeitslose zusätzlich zum Lohn zu bekommen, um bequemer die Miete oder die Hypothek zu zahlen, was auch immer, ich weiß es wirklich nicht so genau, und inzwischen interessiert es mich auch nicht mehr. Auf jeden Fall bleibt ihm seine Jugend, er hat noch viel Zeit vor sich. Da würde ich gerne mit ihm tauschen. Blind. Seine Zukunft für die meine. Abgemacht. Ich höre, wie sie mir ihr Leben erzählen, mir ihre Hoffnungen aufbürden, als sei ich der Zauberer, der ihnen helfen könnte, sie zu verwirklichen, die Fee mit dem Zauberstab, die aus Kürbissen Karossen macht. Wissen Sie, Don Esteban, letzten Sonntag bin ich mit den beiden Kleinen in den Park gegangen, mein Mann war nachts gar nicht erst nach Hause gekommen, und im Park spielte die Musikkapelle unter dem blauen Himmel, und ich saß da, allein, während die Kinder auf den Schaukeln und der Rutsche spielten und in diesen Seillabyrinthen, die man auf Spielplätzen findet, und da dachte ich, ich hätte an einem Ort geboren
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