Am Ufer (German Edition)
der Häuserhaufen von Misent, die Klippen verschwommen im Dunst, die kleinen Tupfer der Fischerboote, die gegen Abend zurückkehrten, gefolgt von einem Möwenschwarm; auf der anderen Seite die steinigen Ausläufer des Montdor. Von der Dachterrasse aus sah ich, dass sich solche Begrenzungen auch im Norden zeigten, der große blinde Fleck des Sumpfs, Röhricht, das sich in der Ferne verliert; und die Linie der Küste, die im Laufe der Jahre hinter der Silhouette der Bauten verschwunden ist; nach und nach gewöhnte ich mich an meine Lage. Ein paar Mal im Monat putzte ich mich heraus und nahm mir den Lieferwagen der Schreinerei: Schon wieder auf Spazierfahrt? Musst du unbedingtBenzin verbrauchen, kannst du nicht mal ruhig zu Hause sitzen? Oder ein wenig im Bergland wandern? Gehen ist gut für die Gesundheit. Soweit mein Vater. Manchmal packte ich die Gummistiefel und das Gewehr ein, damit er glaubte, dass ich jagen ging, tauchte dann aber am späten Nachmittag im Club auf, eine Uhrzeit, zu der man kaum Gefahr läuft, einem Bekannten zu begegnen, und falls doch, dann, weil der ebenfalls keinen treffen will. Das ist die Zeit, wenn die Mädchen langsam ihre Plätze am Tresen einnehmen. Auch heute noch gehe ich, wenn überhaupt, zu dieser Zeit, wenn sie miteinander schwatzen, einander die Nachrichten auf dem Handy zeigen, sich Musik und Klingeltöne vom einen zum anderen schicken, und suche mir schnell eine aus (Lädst du mich nicht wenigstens auf ein Gläschen ein? So eine Hast …), Vergnügungen, die nicht den Kern meines Lebens berühren: ich, eine Ratte, die verzweifelt ihre Krallen in die abdriftende Planke schlägt, mit ihren Artgenossen um den wenigen Platz kämpft, ihnen die Rettung streitig macht. Die schäbige Schreinerei, deren Untergang ich als Freiheitsversprechen empfinden müsste, und der mich doch wie eine Verstümmelung schmerzt. Genau wie bei einer Frau, der man das Kind wegreißt: das war mein erster Gedanke. Man hat mir einen Sohn entrissen, der mir zur Adoption gegeben wurde. Kommt dir die Geschichte bekannt vor, Leonor? Jeder hat das Seinige verloren, ich weiß, ich weiß, bei dir war es eine Übung in innerer Leerung, und ich habe mich von einer Verwachsung gelöst, das ist nicht das Gleiche, bei dir war es unbedeutend oder befreiend, und bei mir harmlos, ein übertragbares Gut, von meinem Vater geerbt, so wie er es von meinem Großvater geerbt hatte, ein abgemagertes, unterernährtes Gut. Die Schreinerei war geschlossen, als er im Gefängnis war, nur die kleinen Gelegenheitsarbeiten meines Onkels sorgten für eine gewisse Kontinuität, bis der Vater dann nach seiner Entlassung die Zügel, wenn auch widerwillig, wieder in die Hände nahm. Wie auch immer, ich hätte keinen, dem ich die Schreinerei weitervererben könnte. Wenn Álvaro sie noch ein paar Jahre weitergeführthätte, wäre das nur eine Geschichte zwischen alten Männern gewesen. Zwischen
armen alten Männern
, würde Álvaro sagen, und die sind etwas, das schrumpelig wird, abbaut und schließlich zu faulen beginnt. In den Zeiten der Abwesenheit seines Bruders hat mein Onkel, ein Halbwüchsiger, kleine Arbeiten in den Häusern von Bekannten erledigt: eine Tür mit ein paar Brettern flicken, Hühnerkäfige für die Terrassen bescheidener Häuschen zimmern, Kaninchenställe für die Flachdächer (die Nachkriegszeit brachte kleine Bauernhöfe mitten in die Dörfer und Städtchen, man musste etwas in den Bauch bekommen), einen Schuppen fürs Werkzeug; mein Vater hat das Geschäft, als er aus dem Gefängnis kam, unter großen Schwierigkeiten wieder aufgebaut, damals hatte er nämlich sehr wohl noch Unternehmungsgeist, seine Mutlosigkeit war so etwas wie eine Attitüde; zu seinen ursprünglichen Ambitionen fand er aller dings nicht zurück, ein Künstler, der sich in ein Arbeitstier verwandelt. Mit dieser Entwürdigung, die ein Zeichen der Zeit war, begann das Geschäft zu kränkeln. Bei mir ist es gestorben. Es gibt keine Erben. Ja, Leonor: Geschichten eines unfruchtbaren Geschöpfes. Liliana: Sie verstehen davon nichts, weil Sie keine Kinder haben. Da hattest du recht, ich versteh davon nichts.
Der Schmerz des Verlustes – nie werde ich der Besitzer von irgendwas sein – und dieser Frieden, der sich in mir auszubreiten scheint, hat nichts mit der Erschöpfung einer Mutter zu tun, die endlich geboren hat: Diese Frau macht die Erfahrung, dass etwas, das ein Teil von ihr gewesen ist, durch sie geatmet und gelebt hat, plötzlich selbständig zu
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