Am Ufer (German Edition)
wiedersehen, Francisco als lächelnder Beobachter der Szene), als sei diese Ehe nureine der ihr zur Verfügung stehenden Optionen, dabei, was hätte sie in Misent erwartet, Schneiderin zu werden? Im Morgengrauen mit den anderen Frauen im Obstmarkt antreten, um Orangen zu klassifizieren, zu waschen, zu wachsen und einzuwickeln? Oder Kakis zu verpacken? Zusammen mit den anderen Angestellten am späten Vormittag Kaffee in der Bar gegenüber der Keksfabrik zu trinken? Nach Hause zu eilen, um das am Vorabend gekochte Essen aufzuwärmen, bevor die Kinder aus der Schule heimkommen? Allerhöchstens Lehrerin werden, was sie als ihre Berufung deklariert hatte. Tag für Tag an die Tafel das Wort Diktat in gotischer Schrift schreiben oder diesen unerklärlichen Fakt erklären, demzufolge der Buchstabe π gleich dreikommavierzehnsechzehn ist und Vieh mit Vogel-V und nicht mit F geschrieben wird (solche Dinge unterrichtete man in jenen Jahren, wenig später begannen die Schulreformen, und ich weiß nicht, wie sie das heute handhaben). Oder sie hätte ihre rudimentären Kenntnisse der Arithmetik nützen können, um die Buchführung in der Schreinerei meines Vaters, der ihr Schwiegervater gewesen wäre, zu übernehmen. Eine andere Option – nicht viel anders, aber doch viel schlechter – wäre gewesen, einen Fischer zu heiraten, einen Mann aus ihrem Viertel, Fischer wie ihr Vater, wie ihr älterer Bruder, auf den die Frau mit dem fertigen Essen wartet, damit er es isst, wenn er nach Verlassen des Boots seine Kneipenrunde mit Bier und Ricard beendet hat. Ein gewissenhaft zubereitetes Essen, das stundenlang auf einem Teller wartet, der mit einem anderen, umgekehrten Teller zugedeckt ist, damit nicht die Fliegen drangehen. Sie hatte den Riecher, wo die wahre Stabilität für ein Nest liegt, das den kommenden Kindern Sicherheit bietet. Wollte die Jungen, die da kommen – diesmal Wunschkinder –, auf dem Ast eines Baumes unterbringen, der hoch genug war, dass nicht die Krallen der Raubtiere heranreichen, die stets unten lauern, das Gesetz des Lebens, die Brut in Sicherheit bringen. Sich selbst da oben platzieren, auf dem hohen Ast, und die Flügel schützend über die Küken breiten. Ihr sollt wissen, ich bin anders als ihr, das schiensie sagen zu wollen, als sie zurückkam. Ich, einer von vielen. Ich erinnere mich an sie, wie sie aus dem Wagen stieg, ein Seidentuch unter dem Kinn geknotet, sodass zwei Strähnen blonden oder kastanienfarbenen Haars herausschauten, Aufhellung oder Nachdunklung stets à la carte. Sie zeigte ihre weißen Zähne in einem Lächeln, das ans Universum gerichtet schien, er holte die Koffer aus dem Volvo und stellte sie nacheinander auf den Gehsteig vor der Tür, sie ein paar Markentaschen, einen Wochenendkoffer aus Leder, vielleicht ein Kosmetikköfferchen, fertig, das Flattern eines geblümten Rocks oder das Aufblitzen einer Hose (damals in Olba Hosen zu tragen erforderte einen gewissen Mut, immerhin, eine verheiratete Frau), die sich um ihren Hintern presst, die Brust modelliert von einem Marinepulli: blaue Streifen auf weißem Grund. Das Parfüm schwebt noch einige Minuten über der Straße. Der Geruch nach Benzin, verbrannt von dem Motor eines Autos, das sich nur sehr wenige hier in Olba leisten konnten, und der Duft des Parfüms, der mir zu schaffen macht, noch wochenlang, wie ein Dorn in der Haut, der sich infiziert hat. Francisco und sie. Kaum eine Begrüßung, sie überlässt mir ihre Wange für einen schnellen Kuss. Als wäre zwischen uns nichts gewesen. Meine untergeordnete Stellung. Vierzig Jahre später, als er nach Misent zurückkommt, trägt Francisco immer noch an der Schuld, die ich ihm aufgebürdet habe, ich kann nicht anders, während auf Leonor ein Verzeihen ruht, das dem Unabänderlichen geschuldet ist. Ihre Schwerelosigkeit – sie ist nur Schatten – enthebt sie von jeder Schuld, der Tod hat sie ihr genommen. Der Tod, die höchste Gerechtigkeit. Danach gibt es weder Schuld noch Sünde. Sie hat die notwendigen Etappen einer reinigenden Askese hinter sich gebracht: Leiden und Krankheit, die Letzte Ölung (oder als Ersatz die endlosen Eingriffe von Ärzten und Krankenschwestern), die Musik von Bach und der Trauerzug hinter dem langen Wagen, der die Steigung zum Friedhof hinauffährt und wenige Meter entfernt von der Stelle parkt, wo mein Großvater aufgesammelt wurde.
Requiescat in pace.
Das Übel der Krankheit – Haarbüschelzwischen den Fingern, wunde Stellen im Mund, Nägel, die sich
Weitere Kostenlose Bücher