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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Chirbes
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von der Haut lösen – hat sie von dem Erbärmlichen des Lebens geläutert, hat das Fleisch gezähmt, Begehren und Zorn in Mitgefühl verwandelt. Etwas Ähnliches geschieht mit dem Sumpf: das Ungesunde und Übelriechende trägt dazu bei, ihn intakt zu erhalten, bewahrt seine Unschuld oder erlöst ihn, macht seine besondere Form der Reinheit aus, eine Variante der Schwerelosigkeit, die ihm seine Unwilligkeit, in eine andere Welt als die eigene zu passen, verleiht (und dennoch ist es nicht eigentlich Erbarmen, was ich für sie empfinde: ein unendliches Mitgefühl, ja, aber überbacken mit der Sauce des Grolls, was hast du mir angetan, was hast du aus mir gemacht). Einige Zeit nach ihrem Tod begann Francisco häufiger nach Olba zu kommen. Nach der stark besuchten Beerdigung, zu der Journalisten, Küchenchefs mit Michelin-Stern und der eine oder andere Politiker kamen und bei der die Leute aus Olba die Verschwendung an Blumenkränzen bestaunten, die den Leichenwagen und den anderen Wagen, der ihn eskortierte, bedeckten, ließ er ihr einen rosa Grabstein aufstellen, als eher spießige Erklärung einer vor aus gesetzten Liebe (er hatte untröstlich geweint, als ihr Sarg in dem Grabloch versank), eines der vier oder fünf prunkvollen Gräber auf dem Friedhof von Olba, einem eher bescheidenen Ort: einfache Gräber, Grabnischen, ein paar Dutzend Zypressen und drei oder vier Pantheons von alten Familien (die Marsals oder die Bernals haben sich als Neuankömmlinge nicht getraut, mit diesen zu konkurrieren), wie es dem Egalitarismus der Gegend geziemt, wo, so sagte man bis vor einigen Jahren, keiner sehr viel, aber alle etwas haben (das letzte Jahrzehnt hat dieses soziale Gleichgewicht zerstört). Er heulte mit demselben nervösen Zucken der Nase, mit dem er am Weinglas schnupperte, uhhmmm, uhmmm, einen Schluck nahm, mit dem Mund unangenehme Geräusche machte, schmatzte, Luft ansaugte, den Wein blasenschlagend in der Mundhöhle schwenkte: Hui, hum, köstlich, ein Wein in seiner Vollendung, da sind Aromen von reifem Obst, oho, und da sind auch Spuren von Kaffee und Schokolade,was, ihr schmeckt die nicht? Aber sie sind doch ganz deutlich! Und ein ferner Hauch von Veilchen, aha, und da spüre ich auch ein Aroma von Wasserblumen, kurz vorm Welken. Schmeckt ihr die nicht? Seerosen, Sumpflilien (aber Francisco, alter Freund, riechen die Wasserblumen nicht eher nach verfaultem Fisch? Warst du etwa nicht mit mir zum Fischen im Marjal und weißt zur Genüge, wie eklig die Seerosen riechen, die
ninfées
, die Monet ebenso wunderbar wie obsessiv malte, weil sie auf der Leinwand so entzückend aussehen. Ich werde dich mal daran riechen lassen, damit du dich an diesen unliebsamen Gestank unserer Kindheit erinnerst). Blumig, seidig, vollmundig, fruchtig, intensiv. Das ist noch nicht so lange her. Wie lange, sechs oder sieben Jahre? Wenn du auf dem dünnen Seil der Siebziger tanzt, bemerkst du immer noch, dass zehn Jahre nichts sind, und nicht einmal die zwanzig des Tango viel hermachen. Auch nicht die siebzig, die du gelebt hast. Das Leben, ein Hauch. Ich glaube, Leonor ist 2003 gestorben. Vielleicht schon etwas früher. Francisco war seit dem Tod seiner Eltern und seitdem die Geschwister weggezogen waren und das Elternhaus verkauft hatten, um dort ein Apartmentgebäude zu bauen, nicht mehr in Olba gewesen. Sie aber hat offensichtlich gesagt – und sogar schriftlich verfügt –, dass sie in Olba begraben werden wollte. Ich weiß nicht, aus welchem Grund, denn von ihrer Familie hat keiner hier gelebt, auch nicht ihre Geschwister, mit denen sie, soviel ich weiß, keine Beziehung pflegte – der Fischer kam zu der Beerdigung, mit Frau und Kindern, ernst, feierlich, weinte aber keine Träne. Der andere Bruder ist gar nicht erst gekommen, sie leben in Misent, wie die Familie seit jeher. Olba ist das Terrain von Francisco, aber ein paar Stunden lang habe ich gedacht, dass meine Gegenwart hier etwas mit ihrem letzten Wunsch zu tun gehabt haben könnte. Dass die Erinnerung an die erste Liebe sich wieder eingestellt hatte. Warum nicht? Wir Alten haben das Verlangen, das, was wir in der Kindheit oder Jugend falsch gemacht haben, zu korrigieren, auf eine andere Weise zu leben. Als wenn das möglich wäre. Wir denken öfters in der Nacht,was wohl aus dem kleinen Mädchen geworden ist, das wir damals kannten. Wahrscheinlich ist das deshalb so, weil wir unsere Unfähigkeit erkennen, etwas uns Betreffendes jetzt in der Gegenwart zu korrigieren; wir

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