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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Chirbes
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wollen nicht akzeptieren, dass das Mädchen jetzt eine alte Frau mit Zahnimplantaten oder einem Gebiss wie dem unsrigen ist. Nachts besuchen dich Erinnerungen an Menschen, die schon nicht mehr sind, Geschichten, die du mit keinem teilen kannst, weil keiner von denen, die das mit dir erlebt haben, übrig geblieben ist. Ja, blöderweise ist mir der Gedanke durch den Kopf gegangen, dass sie aus Nostalgie heraus nach Olba zurückkehren wollte, ein Gedenken an die eigene Jugend, an die Zimmer in Billighotels, unseren ineinanderfließenden Speichel, die Dunkelheit zwischen den Dünen, der Glanz des Mondes auf dem Sumpfwasser und das Sumpfwasser auf der Haut: Sehnsucht nach den Glücksgefühlen jener Zeit, zu der ich nun einmal gehöre. Ich habe sogar gedacht, dass ich sie nah bei mir haben würde – als ob ein Toter nah oder fern sein könnte –, und ich sah mich selbst abends zum Friedhof hochgehen, um mit ihr zu reden, so wie es einige Witwer tun, die täglich das Grab ihrer Frau besuchen, sich auf den Stein setzen, ihn säubern, das Glas putzen, das ihr Foto schützt, und ein Sträußchen Blumen auf den Grabstein legen. Nicht alles war verloren. Von dem lodernden Feuer war die Asche geblieben. Das Leben übernahm es, das eine oder andere zu korrigieren. Sie war zurückgekehrt. Nicht selten geben die Toten den Handlungen der Lebenden einen Sinn. Das Grab der Geliebten, die nach ihrem Gang durch die Welt entschied, zum Verwesen an jenen Ort zurückzukehren, an dem sie ihre erste Liebe erlebt, die erregende Entdeckung des Fleisches gemacht hatte.
    Vor ein paar Tagen, als ich mit dem Auto am Friedhof vorbeifuhr, sah ich, wie von dem Gärtchen gleich an der Mauer eine riesige Ratte hervorsprang und über die Steine ins Innere kletterte, angezogen wohl von den Gerüchen der letzten Bestattungen. Die Krise sorgt dafür, dass die Leute in Särgen von miserabler Qualität beerdigtwerden, die mitnichten die Fäulnis zurückhalten. Ich schwör dir, im Augenblick, als ich die Ratte springen sah, hatte ich Angst um dich, fürchtete, dass dieses Tier dir am Ende was antäte, auch wenn ich nicht glaube, dass es unter dem Stein, der deinen Namen und dein Foto trägt, noch viel zu nagen gibt, aber wer weiß, diese Biester kennen keine Scheu, die Bretter des Sargs, deiner von bester Qualität, die Knochen, die Stoffreste, die der Feuchtigkeit des Landstrichs widerstanden haben. Selbst an den heißesten Sommertagen höre ich, wenn ich zu Bett gehe, durch das Fenster das Tropfen des nächtlichen Taus, der vom Ziegeldach auf den Gehsteig fällt, besonders in Nächten, in denen das Klima eher tropisch als mediterran ist, klebrige Nächte, man wälzt sich schlaflos im Bett, endlose Nächte, auch wenn es die kürzesten des Jahres sind. Du drehst und wendest dich zwischen feucht glühenden Laken, Fleischbrühe, der verschwitzte Kopf klebt am Kissen, zäh wie die stehende Luft, die dich umgibt. Und im Halbschlaf dann, fast überfallartig, das blendende Licht der Sonne, das ohne Vorwarnung einfällt, niederdrückende Hitze auf dem gedörrten Gras und das Kreischen der Zikaden. Nein, nein, Leonor, das hier ist nicht Schweden, auch nicht Deutschland oder die milde Bretagne, diese schattenreichen, gotischen, nächtlichen Länder, in denen Beziehungen eine metaphysische Dichte zu haben scheinen. Bei uns zu Lande überzeugt die Geschichte von der Geliebten, die zu ihrer Jugendliebe zurückgekehrt ist, nicht. Wir haben eine Weile zusammen gevögelt, und dann hast du dir einen anderen zur Gesellschaft im Bett gesucht, das war’s, keine Melancholie, nichts zu korrigieren, nichts, wonach man sich sehnen könnte, undenkbar, eine solche Rhetorik: Dies ist das Mittelmeer, das Übermaß an Licht lässt die Mysterien verdorren. Unter diesem Himmel kann sich keine romantische Metaphysik halten. Unsere Sache sind nicht die großen düsteren Wälder, die Pracht der Laubbäume, die einsam wandelnden unerlösten Seelen, hier gibt es nicht eine solche Poetik der Schatten. Das Unsrige: verkrümmte Bäume, karg belaubt, mehr Holz als Blätter, mehr grau als grün.Man muss sich davor hüten, seine Gefühle auszustellen, denn sie verlieren ihre Valeurs unter diesem schamlosen Licht. Was soll ich erzählen, was nicht alle Welt weiß? Also blieb ihr Gatte der Einzige, der einmal im Monat oder alle zwei Monate dort hinpilgerte, um ihr Blumen zu bringen. Wie es sich schickt.
    Ich sehe ihn zuweilen von der Werkstatt aus in Richtung Friedhof gehen und denke, dass diese

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