Am Ufer (German Edition)
dagegen, dass du etwas davon erfuhrst, bevor du volljährig warst. Die da – er meinte dich und deine Geschwister – haben nix damit zu tun. Die werden es schon noch erfahren. Ich werde ihnen zeigen, wie die Dinge waren.« Später dann versuchte mein Vater mir darüber zu erzählen, aber seine Geschichten interessierten mich nicht mehr besonders, der dünne Faden, der uns verband, war gerissen. Jedenfalls ging keiner dieser Fakten in meine Diskussionen mit Francisco ein. Sie waren mir nicht bekannt, und wir diskutierten eher auf der Ebene der Metaphysik als auf jener der Geschichte – die meinen Vater in der Zange hielt –, sie erschien uns als etwas zu Naheliegendes, es mangelte ihr an Poesie: schlecht gelüftete, übel riechende Zimmer, unter dem Bett der Nachttopf, in den der Opa nach dem Einlauf sein Geschäft verrichtet hatte, über dem Kohlebecken wurden Lavendel und Zucker verbrannt, das sollte den Gestank aus dem Krankenzimmer vertreiben, und der Müllkübel stank nach fauligen Innereien. Das war unsere jüngste Geschichte. Was wir zu Hause gesehen und gerochen hatten, was wir waren und wem wir entkommen wollten. Da waren die Orte besser, wo die Worte sich frei nach deinem Willen bewegen und das Blut nicht riecht, weil es mit Tinte gedruckt ist. Die Geschichte dagegen nimmt dich in Beschlag, zwingt dich, einem bereitsvorhandenen Drehbuch zu folgen, und das interessierte mich nicht. Also entgegnete ich Francisco:
»Wie kannst du so was sagen, du hast doch die Bibel gelesen. Gott gewährt nicht nur das Recht zu töten, sondern vertreibt sich auch die Zeit damit, Zwietracht zwischen den Menschen zu säen, auf dass sie sich untereinander töten. Seit Anbeginn aller Dinge, in der Genesis: Kain. Merk dir noch ein paar Beispiele: Moses, der erste Anhänger der gewaltsamen Befreiung, zögert nicht, den Führer zu ermorden, der sein Volk unterjocht; der ehebrecherische David, die grausame Salome, oder diese von den Feministinnen so ge feierte Scharfrichterin Judith, sie enthauptet den galanten Holofernes, der nichts anderes getan hat, als ihre Schönheit zu bewundern, sie mit seinen besten Schätzen zu beschenken und ihr die köstlichsten Speisen aufzutragen, und es ihr zudem, wie wir nach so vielen Stunden allein zu zweit in dem luxuriösen Zelt vermuten, ordentlich besorgt hat. So zahlst du es mir? Ich verströme in dir den Samen des glorreichsten Generals der Assyrer, was viele Frauen als größtes Geschenk empfänden, die Möglichkeit, einen Erben meines Ruhms zu gebären, und du köpfst mich dafür. Diese Frau war nicht heroisch, es mangelte ihr einfach an Dankbarkeit. Und an Erziehung: Das sind doch keine Manieren, so benimmt man sich doch nicht bei einem Abendessen, noch behandelt man so einen Gastgeber, der dich mit offenen Armen empfangen hat (das passte nie so gut). Wo es schon als unhöflich gilt, bei einer Einladung zu sagen, dass es einem nicht schmeckt, was soll man dann dazu sagen, wenn jemand den Hausherrn tötet? Was für eine Benimmfibel soll man mit solchen Beispielen schreiben? Die Bibel. Die Mutter aller Ungezogenheit.«
»Das ist doch der Gott des Alten Testaments… Aber warum setze ich mich überhaupt mit dir auseinander. Geh doch zum Teufel«, sagt Francisco, verzieht die Lippen zu einem aufgesetzten Lächeln, öffnet und schließt dabei die rechte Hand, als winke er zum Abschied. »Du bist in Blödelstimmung und verarschst mich nur.«
»Die heldenhafte Geschichte der Judith, die mörderische Geschichteder Judith, die traurige Geschichte der Judith, ganz nach Belieben. Die Ideologie setzt die Adjektive.«
Die Geschichte von Judith und Holofernes ist, sagen wir mal so, eine von Adjektiven entblößte Aussage. Was meinst du, Liliana? Ihr wisst ja gar nicht, was eine gute Kartoffel ist. Wenn Sie hier auf den Markt in Olba gehen, oder auf den in Misent, der ja ziemlich viel größer ist, oder in die Supermärkte Eroski oder Mercadona, wie viele Sorten Kartoffel finden Sie da? Rote und weiße, das war’s, oder alte und neue Ernte, nichts mehr, bei uns gibt es an jedem Straßenstand die ganze Bandbreite von Sorten, und jede davon ist mehr oder weniger für das eine oder andere Rezept geeignet, und manchmal gibt es auch ein Rezept, in dem man drei oder vier unterschiedliche Sorten verwenden muss, weil manche zergehen und den Eintopf verdicken, andere wiederum fest bleiben, bis man sie mit den Zähnen oder mit der Gabel zermalmt. Ich gebe ja zu, in Ihrem Land geht alles geordneter zu, es ist
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