Am Ufer (German Edition)
…
»Unglücklicherweise befreien sich die Leute allzu oft mit Fleiß von denen, die ihnen ähnlich sind.«
»Klar. Und du befreist dich von dir selbst, weil du dir allzu ähnlich bist. Lach nicht, Francisco. Du bringst dich um, weil du bist, wer du bist, und nicht der, der du gerne wärst, du gibst dir die Kugel, weil du dich nicht erträgst. Aus reinem Hass. Um zu widerstehen – am Leben zu bleiben –, braucht man eine gehörige Portion Idealismus. Die Fähigkeit, sich was vorzumachen. Es überleben nur diejenigen, die es schaffen zu glauben, dass sie sind, was sie nicht sind.«
»Willst du mir einreden, dass ihr Jäger eine Schuld sucht, die ihr euch aufladen könnt, wenn dazu längst keine Notwendigkeit mehr besteht? Eine nachträgliche Zahlung für die Unschuld eurer Vorfahren?«
»Von einem unschuldigen Menschen zu sprechen ist ein Oxymoron – heißt das nicht so? Zwei Worte zusammenbringen, die sich eigentlich widersprechen, und damit eine fremdartige Wirkung erzielen. Das hast du mir beigebracht. Oxymoron. Ein lärmendes Schweigen, ein unschuldiger Mensch. Das eine taugt für die Dichtung, das andere für Soziologie, Religion oder Politik. Unsere Urahnen aßen faulige Überbleibsel, Reste von dem, was die wilden Tiere erlegt und nur halb vertilgt hatten. Es fehlte ihnen an Fähigkeiten, weder konnten sie rennen und springen wie ihre Beute, noch waren sie ausgestattet, um einen Hirsch anzufallen und ihm die Reißzähne in die Halsschlagader zu treiben. Dafür aber trugen sie das Böse in sich: Sie dachten sich Fallen und Listen aus. Die ich heute noch zum Jagen und Fischen benutze. Aber bis dahin machten sie den Hunden und Geiern die Fleischreste streitig. Ich sehe keine Unschuld, nirgends. List und Falschheit. Aber, was soll ich dir sagen, Francisco. Nicht immer suchen wir uns das Ratsamste aus. Es gibt auch negativen Egoismus, der Wunsch nach dem, was uns zerstört. Vielleicht liegt darin das Beste von uns. In dieser Verunsicherung. Unserer Zerbrechlichkeit. Wir Menschen sind sonderbareTiere, wir denken mit einer anderen Logik als wir fühlen, und allzu oft steht das, was wir fühlen, dem, was wir brauchen, entgegen; Liebe, Leidenschaft – das sind die Gefühle –, oder warum nicht, der Hass, sie können unseren Ruin bedeuten, wir wissen das und gehen ihm dennoch entgegen, können gar nicht anders, und keiner kann erklären, warum das so ist.«
Ich konnte mit ihm über so etwas sprechen. Über die Anziehungskraft, mit der Leonor als Magnet an mir zerrte – jedem seine eigene Falle –, aber ich hatte ihr versprochen, das Geheimnis zu wahren. Wir sahen uns heimlich. Ich hatte Madrid und die Kunstakademie verlassen und war entschlossen, in dem Bereich zu arbeiten, in dem ich nie hatte arbeiten wollen: als Schreiner in der Werkstatt meines Vaters, und nicht einmal mir selbst wollte ich eingestehen, dass sie es war, die mich hier festhielt, meinen Ehrgeiz aufsog. Tatsächlich war die Arbeit eine Nebensächlichkeit ohne Bedeutung. Ich hasste die Schreinerei, aber das war für mich kein Problem, da stand ich drüber. Ich hielt mich für besser. Es erschien mir albern, die Regeln der Ästhetik zu lernen, die man uns an der Akademie einzutrichtern suchte, wozu sollte das gut sein; unbedeutend, was Francisco an der Philosophischen Fakultät studierte, seine Diskussionen über Politik, Kunst und Theologie, die Suche nach der Botschaft, die Filme und Bücher enthielten, Pipifax für Halbwüchsige, ich aber war in etwas Richtiges verwickelt, ein Thema für Erwachsene, für das es sich lohnte, was auch immer zu arbeiten und sogar meinen Vater zu ertragen: der Eifer eines Mannes, der Strategien entwickelt, um über eine Frau zu verfügen, eine Frau, die sagt, mehr, mehr, fick mich mehr. Es ging darum, wie die Erwachsenen eine Arbeit zu machen, die einem nicht gefiel; eine Frau zu haben, die dich begehrt, die nicht deine nette Art, deine Intelligenz begehrt, sondern dein Fleisch, denn so funktioniert das Begehren bei Erwachsenen. Zumindest glaubte ich das damals. Und das war meine Vorstellung von Reife. Während Francisco von Plato, Marx oder Antonioni redete, ein kindisches Blablabla, hatte icheine Frau, die mir gehorchte, die mich anflehte: Ja, so, ich will dich tief drinnen spüren. Das war kein Geschwätz über den Sinn oder die Wahrheit des Lebens. Dieses Fleisch besitzen, es vor dem Begehren der anderen zu verteidigen, wissen, dass es dir zur Verfügung steht und anderen verboten ist. Ein Mann sein. Der
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