Am Ufer (German Edition)
dann, wenn dir das Wasser erst mal bis zum Hals steht, in diesem hochprekären Moment, genau umgekehrt ist: Es sind gerade Frau und Kinder, die dich dazu treiben, Verrücktes zu begehen, vor dem sie dich früher abzuhalten schienen. Diejenigen, die dich gerettet haben, ziehen dich ins Verderben. Du verlierst dich, und sie sind schuld. Du bist dazu fähig, mit vorgehaltenem Gewehr den Metzger im Viertel auszuplündern, um ein paar Hühnerbrüstchen, Hühnerknochen für die Brühe, Markknochen und ein Stück Wade für den Eintopf in den Kühlschrank zu stecken; Würstchen, Hamburger, Käseecken, Joghurt; Ariel für die Waschmaschine, Windeln für die Kleine. Ich weiß nicht, was ich gegen euch, die ihr alles habt, tun könnte; ich habe ein Gewehr im Haus. Die Papiere sind in Ordnung, der Waffenschein, im Urteil wird das Delikt unerlaubter Waffenbesitz nicht auftauchen, Totschlag, Mord, Raubüberfall, Hinrichtung, das alles kann da auftauchen, aber nicht unerlaubter Waffenbesitz, denn, jawohlmeine Herren, ich habe einen Waffenschein. Erlaubter Waffenbesitz. Das war mein Vetter, der hat mich überredet, den Schein zu beantragen, er wollte, dass ich ihn zur Jagd begleite, in einem Jagdrevier in La Mancha, an dem er beteiligt war, das war in der Nähe von Badajoz, zwischen Lupiana und Arroba de los Montes (nein, das sagt dir sicher nichts, es sind kleine Dörfer, die sich auf der Landkarte verlieren), damals konnte ich mir das erlauben, das und noch mehr, die Reisen, das Gewehr, ein paar Rebhühner schießen, einen Hasen, ein Wildschwein. Einmal haben wir an einer Drückjagd auf Wildschwein und Hirsch teilgenommen, das war auf einer Finca, durch die du drei, vier Tage laufen konntest, ohne an ein Ende zu kommen. Ich mochte das, mit ihm im Lieferwagen wieder heimfahren, wir rochen nach Schlamm, nach Gras, nach feuchtem Haar, dazu der Blutgeruch der Tiere und unser Schweiß, die ganze Fahrt über nach Wildschwein riechen an diesen kalten, klaren Wintertagen, und an diesen anderen, nebligen, mit Nieselregen, der Geruch nach bitterem Kaffee, nach Cognac, nach Carajillo (wir machten auf der Strecke drei oder vier Mal halt); manchmal haben wir aber auch nach Nutte gerochen, weil wir bei einem Club an der Landstraße gehalten haben, in der Nähe von Albacete; nach Hause kommen, Schuhe ausziehen, das Wild aus dem Rucksack holen, und dann ab unter die Dusche, damit die Frau nicht am Hals oder zwischen den Beinen den Lippenstift und das Make-up der Nutte riecht, dieses penetrante Parfüm, das die Luder benutzen, ohne daran zu denken, dass die meisten von uns verheiratet sind und unsere Frauen schon von Weitem Nutten wittern. Man konnte wirklich nicht meckern. Esteban hat mich das ein oder andere Mal mit ins Sumpfgelände genommen: Komm doch mit, Julio, wir machen uns einen schönen Vormittag, essen dann zusammen, und mit etwas Glück bringen wir einen Aal oder eine Wildente heim; aber das war nicht dasselbe, der Marjal ist matschig und bedrängend, übel riechend, während man auf jenen Ländereien, ein Hügel nach dem anderen bis zum Horizont, Freiheit atmete. Damals lebten wir. Ich entfaltete mich. Wir konnten uns die jetzige Scheiße überhaupt nicht vorstellen, man weiß heute schon garnicht mehr, wen man um Geld angehen soll, es ist beschämend, da anzukriechen, und dass die Bekannten bleich werden, wenn sie dich kommen sehen, und klammheimlich die Straßenseite wechseln, weil sie fest damit rechnen, dass du sie, wie schon vor zwei Wochen, anpumpen willst. Das lastet alles schwer auf einem, den ganzen Tag versuchst du dieses und jenes, drehst und wendest alles, überlegst dir, wie du mit den vierhundert Euro Familienhilfe und den sechshundert, die deine Frau verdient, über die Runden kommen sollst, die Rechnung will nicht aufgehen, immer sind da mehr Ausgaben als Einnahmen, so sehr du auch um ein Gleichgewicht bemüht bist, wie soll ich davon die Bücher und die Schulsachen für die Kinder bezahlen, die sind dieses Jahr auf siebenhundert angestiegen, dann die Winterkleidung, denn die vom letzten Jahr ist zu klein geworden oder zerschlissen, die Schuhe, die Versicherung fürs Auto, die Hypothek auf das Haus, die Steuern, das Ganze wird zum allnächtlichen Albtraum, als die Dinge gut liefen, hast du gar nichts davon bemerkt, sobald sie schlecht laufen, gibt es nur ein einziges Thema: Wie ist der Kühlschrank zu füllen. Erst wenn du ruiniert bist, stellst du fest, dass man jeden Tag essen muss, so ein Schwachsinn. Klar. Das
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