Am Ufer (German Edition)
Ruf der urzeitlichen Horde.
»Gott gibt aber …«
»Das mit Gott kam ziemlich viel später, als deine Opas sich schon seit Jahrtausenden gegenseitig in den Kochtopf steckten und dem Nachbarn das Mark aussaugten, Finger und Zunge im Loch des Knochens. Ich glaube, man lutscht an einem Schwanz, weil man nicht das Knochenmark auslutschen kann. Reste von Kannibalismus. Denk doch, wie wir beim Vögeln zubeißen, wir sagen, putz mich weg, wie ich dich verputze« – ich machte mich insgeheim über ihn lustig, es war wie ein Spiel, ich labte mich daran, dass er solche Worte hören musste – mach mich alle –, denn ich kannte ihren Klang, wenn sie aus meinem Mund in ihr Ohr drangen. Und er erzählte mir von Gott und von einem bewegenden Buch, das er gerade gelesen hatte.
»Ich meine, Gott gibt keinem das Recht, eines seiner Geschöpfe, und sei es das unbedeutendste, leiden zu lassen«, beharrte Francisco, eher Mystiker als Anthropologe. Als Ursprung sah er nicht so sehr die Horde, sondern einen trauten Familienkreis. Papa und Mama, die Kleinen tollen im Schatten der üppigen Bäume, Oma und Opa betrachten die Szene, und ein Süppchen köchelt sanft vor sich hin (besser nicht fragen, was darin gart). Er hatte sich der JEC oder der HOAC angeschlossen, einer der christlichen Jugendgruppen, die in jenen Jahren angesagt waren. Bei ihm zu Hause konnte man, dank des Strickwarengeschäfts, des Kolonialwarenladens (als der Tourismus einsetzte, wurde daraus eine Supermarktkette), den Orangenhainen und den Muskatellerweinbergen, vor allem aber dank des väterlichen Falange-Ausweises, der so viele Türen öffnete – das Blauhemd, das er nach Kriegsende spazieren führte –, sich denLuxus leisten, die notwendigen Proteine, die bei Tisch serviert wurden, einzukaufen, statt sie jagen zu müssen. Wenn Geld zu etwas nütze ist, dann dazu, deinen Nachkommen Unschuld zu erwerben. Nicht schlecht. Das ist nicht wenig. Es befördert dich aus dem Reich des Tierischen ins Reich der Moral. Dem Geld sei Dank, waren die Treibjagden auf die widerständigen Maquis im Bergland und im Sumpfgebiet bei den Bernals ins Vergessen gesunken: jene Monate, in denen der Vater seinen glänzenden Hispania in den Dienst der Gruppe stellte (das war wirklich eine Meute, ein Überbleibsel der Urhorde). Der graubekittelte Angestellte des Kolonialwarenladens polierte die Karosserie, bevor Don Gregorio Marsal, der Besitzer, einstieg und den Chauffeur für die falangistischen Patrouillen gab, die sich überall herumtrieben. Sie tauchten urplötzlich auf, sperrten die Straßen, prüften die Ladung der Eselskarren, schlugen die Karrenführer, verfolgten die Radfahrer, die ein paar Sack Reis oder Zucker und eine Kanne Öl für den Schwarzmarkt dabeihatten. Sie beschlagnahmten Waren, verlangten Papiere und schlugen die Schieber, die Betrunkenen, die Unglücksraben zusammen, die nicht rechtfertigen konnten, warum sie zu dieser Stunde auf der Landstraße waren; auch solche, die verdächtig waren, früher Mitglied einer der Parteien der Volksfront gewesen zu sein, und das Pech hatten, gerade vorbeizukommen. Mein Onkel hat mir davon erzählt und, ziemlich viel später, auch mein Vater, aber mich langweilten diese Geschichten. Ich hatte keinen Sinn für die Epopöe des Widerstands, die sie mir nahebringen wollten. Vor allem mein Vater. Das unheimliche schwarze Auto fuhr nachts mit abgeschalteten Scheinwerfern herum und hielt vor irgendeinem Haus, durch die offenen Autofenster drang das Gelächter hinaus in die heiße Nacht. Sommer 1939. Die Schüsse in die Luft als Visitenkarte der Meute, krachend lösten sich Brocken aus einer Mauer, wo die Nachbarn dann am nächsten Morgen die Einschusslöcher sehen konnten. Ein Wagen für Schlächter. Es riecht nach Aas. Aber das ist die schmutzige Phase, die so oder anders bei jeder ursprünglichen Akkumulationunvermeidlich ist. Damit die Pflanze wächst, muss erst mal Dung her. Diese Jagdausflüge hatten nicht die jugendliche Unbesonnenheit, die all die Witzchen und das feuchtfröhliche Gelächter nahelegten, da wurde mit kühler Berechnung eine Maut erhoben, um weiter wachsen zu können, Rituale des Übergangs, Etappen in der Entwicklung einer neuen Unternehmergeneration: Nach diesen Scharmützeln begannen sich die Gesichtszüge des Kolonialwarenhändlers zu runden, erwarb der Kurzwarenhändler diesen jovialen Blick, diesen freimütigen Ton, die Autorität der Gesten (mit mir legt sich keiner an), das zufriedene Lächeln, das seine
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