Am Ufer (German Edition)
weiß jeder. Was du unter normalen Umständen nicht einmal bemerkst, wird, wenn du keinen Euro in der Tasche hast, zum großen Abenteuer: Je-den-ver-damm-ten-Tag-muss-ge-gess-en-wer-den: Man muss die Schüssel in die Mitte des Tisches stellen, und die Kinder müssen ihr Saftfläschchen mit in die Schule nehmen und das Brötchen mit Mortadella oder einer Dose Thunfisch, diese kleine runde Blechdose, die kleinste, darin ein paar Fasern oder Bröckchen Fisch, die kaum reichen, das Brot zu bedecken; und es geht nicht etwa um heute, sondern um jeden Tag, denn sie brauchen jeden Tag einen Pausenimbiss und ein Abendessen. Und die Kleine bekommt jeden Morgen frische Windeln. Ich lege mich ins Bett und glaube zu ersticken, ich richte mich auf, schlage um mich und schreie. Meine Frau erschrickt. Was ist denn mit dir los? Ich dachte, ein Einbrecher, aber nein, ich nehme die Ängste des Tages mit in den Schlaf, denn das, was gar nichts war, hat sich zu vier täglichen Problemen ausgewachsen, für die man sich etwas einfallen lassenmuss: Frühstück, Mittagessen, Pausenimbiss, Abendessen. Du bettelst: Könntest du ein bisschen was für mich lockermachen? (wendest dich an einen, der nicht schnell genug die Straßenseite hat wechseln können, als er auf dich traf). Ich kann einfach nicht die Brotstange und die kleinen Saftkartons für die Kinder kaufen. Und sie können doch nicht ohne nichts in die Schule. Mir bricht das Herz, wenn ich höre, wie sie zu meiner Frau sagen: Mama, es ist kein einziger Joghurt mehr da, es gibt keine Wasserkekse und auch keine Madeleines. Ich schleiche mich auf Zehenspitzen aus dem Haus, schließe vorsichtig die Tür, damit sie nicht knarrt, ich steig ins Auto (Obacht mit dem Benzin, der Tank ist fast leer, wann kann ich wieder tanken), fahre bis zum ersten freien Feld und fang an zu heulen. Ich heule ganz für mich allein. Über die Kinder, die Saft verlangen, und meine Frau, die mich anschreit, ob ich vielleicht vorhabe, etwas zu tun, weil sie das nicht mehr aushält; ich kann keine Wunder wirken, sagt das Miststück, um mich aufzumuntern, als sei dieser Zustand meine Schuld. Heb den Hintern vom Sofa. Das andere Mädchen: Mama, schau mal, der Tete hat das ganze Brot aufgegessen, jetzt kannst du mir kein Pausenbrot mehr machen. Und sie nehmen zur Schule Leitungswasser im Fläschchen mit, von dem sie ja nicht das Etikett abziehen sollen, damit sie vortäuschen können, Mineralwasser zu trinken, weil das gesünder ist, während die anderen Kinder ihren Ananas- oder Orangensaft trinken oder das Mehrfruchtgetränk, das mit Vitaminen und Calcium und was weiß ich noch angereichert ist, jeder kleine Karton mit angereichertem Saft kostet im Supermarkt fast einen Euro. Wie soll ich das bezahlen, wenn es nicht mal für Kartoffeln reicht. Schon seit drei Monaten, seit Esteban uns keinen Lohn mehr zahlt, dürfen sie, wenn ich die Stütze kassiere, den Saft für dreißig Cent mitnehmen, aber oft reicht es nicht mal für den: Leitungswasser mit dem Lanjarón-Etikett oder mit ein paar Tropfen ausgepresster Orange, wenn es denn ein Fläschchen mit dem Etikett von Zumosol ist.
Und wer es nicht auf die andere Straßenseite schafft, nachdem er dich erkannt hat, den überfällst du skrupellos: Gib mir, was du kannst, was auch immer, du weißt ja, ich würde nicht drum bitten, wäre ichnicht in der Lage, in der ich bin, ich hab dir immer alles Geliehene zurückgegeben, aber gerade jetzt. Und das Opfer wühlt nervös in der Tasche, als steche ihm eine Messerspitze in die Seite. Und sie sticht. Ich steche ihn. Ich kann leider nicht, ich habe nichts, ich. Und ich weiß, was er sagen will: Das hier ist ein Raubüberfall, ich aber tu so, als merkte ich nichts davon. Der Mann holt ein zerknittertes Fünf-Euro-Scheinchen hervor und reicht es mir. Ich hab nicht mehr dabei, sagt er, während er sich eilig davonmacht, als könnte er sich bei einer Berührung die Lepra der Armut holen. Er entfernt sich, ohne den Dank abzuwarten, vielen Dank, sage ich. Er hält nicht inne, als ich ihm sage, dass ich ihm die fünf Euro zurückgeben werde; sobald ich kann, bekommst du sie zurück, sage ich jetzt lauter, und entschuldigend sagt er aus der gewonnenen Distanz: Ich bin auch ziemlich blank, hab wirklich nicht mehr dabei, so verteidigt er sich. Er wendet das Gesicht ab und wird rot wie eine Tomate: Ihm ist es peinlicher als mir, aber ich kann dennoch kein Gefühl der Dankbarkeit aufbringen, du Sack, denke ich, obwohl der Mann ja wirklich
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