Am Ufer (German Edition)
den See, auf die grünen Wiesen, auf die Milkaschokolade-Kühe und den Schnee des Kilimandscharo, und du liegst auf einer weichen viskoelastischen Matratze (heißen die so?), auf der du vor dich hin stirbst wie beim Fünf-Uhr-Tee, wenn du Engländer bist, oder bei einem Mittagsbierchen zu Calamari nach römischer Art, wenn du aus meiner Gegend kommst, die ganze Szene bei idealer Temperatur, programmiert in der Klimaanlage. Und mit der letzten Tablette bekommst du ein Gläschen Champagner. Aber du bist so ernst geworden, nein, du darfst das nicht so verstehen, dass man den zahlt, der einen pflegt, ihn kauft, sei nicht gekränkt, wie gesagt, ich meine damit nicht dich, du bist etwas ganz anderes für mich, du bist mein Kindchen, das, was meine Schwester Carmen für meinen Vater war, du bist etwas ganz Besonderes für meinen Vater und mich, für uns beide: du gehörst zur Familie, eine mehr, unsere nachgeborene Tochter, die Familie, das sind wir drei, zwei traurige alte Säcke und ein Mädchen, das Leben ins Haus bringt, ich hör dich so gerne singen, wenn du putzt, wenn du die Wäsche aufhängst, du erinnerst mich an meine Mutter, ich höre gern das Radio, das du dir zum Bügeln in der Küche anstellst, und ich glaube, meinem Vater gefällt es ebenfalls, auch wenn wir ihn nicht mehr fragen können, er ist nicht mehr präsent, mach nicht so ein trauriges Gesichtchen, da will ich dich am liebsten umarmen und dein Kinn mit Zeigefinger und Daumen heben, damit du mir in die Augen schaust. So, schau mich an. Aber, Don Esteban, Sie wissen doch, auch wenn ich keinen Cent dafür bekäme, ich würde Ihnen beiden immer Gesellschaft leisten. Sie haben ja gesehen, dass mir das alles nichts ausmacht: Ich kann ihn waschen,ihn füttern, was auch immer kann ich für Ihren Vater tun, und das gilt auch für Sie. Solange ich lebe, werden Sie immer eine Pflegerin, besser gesagt, wenn Sie erlauben, eine Freundin haben. Wissen Sie, ich hab das gerne, wenn Sie mich Tochter nennen. Ich weiß, Liliana, ich weiß, komm schon, gib mir ein Küsschen und mach kein trauriges Gesicht mehr. Was, du weinst schon wieder? Ich liebe Sie beide eben genauso wie meine Eltern, das heißt, wie meine Mutter, denn mein Vater hat mir die Liebe, die ich für ihn empfand, aus dem Leib geprügelt. Aber Liliana, sprechen wir etwa von Liebe? Dem Wort musst du misstrauen. Nein, sei nicht beleidigt, ich sag es nicht wegen dir, aber es ist besser zu sagen, dass wir das Leben des anderen respektieren, weil wir einander gernhaben, nicht weil wir uns lieben. Wir verschwenden keinen Gedanken daran, was irgend wann künftig zwischen uns passieren könnte. Das unterscheidet lieben von gernhaben. Wir sind von heute und leben heute diesen Augenblick, den wir teilen wie das Bedürfnis, gemeinsam zu weinen, weil wir einander verstehen, und morgen wird man sehen. Nein, nein, Don Esteban, morgen und übermorgen und überübermorgen, bis zu Ihrem Tod können Sie auf mich zählen. Ihr seid meine Familie. Auch wenn ich nichts bezahlt bekäme, ich käme dennoch. Schließlich und endlich ist Geld Scheiße. Ich weiß schon, mein Kindchen, aber schau, Liliana, meine Schwester Carmen, die geliebte Tochter meines Vaters, sein Lieblingskind, sein Augapfel, ruft nicht mal mehr an. Seinerzeit war sie ganz Liebe, und jetzt, was ist jetzt? Nichts. So ist es, die Vielgeliebte ist heute gar nichts mehr. Eine Fremde. Schlimmer als eine Fremde, denn für eine Fremde kannst du am Ende ein Gefühl entwickeln, hier ist es aber umgekehrt, hier ist ein Feuer erkaltet, und ein Feuer, das erkaltet, hinterlässt Rußflecken auf dem Boden, und die sind nicht zu entfernen. Als sie meinen Vater an der Luftröhre operierten, war sie gerade mal die allernötigste Zeit daheim. Am Tag der Operation hat sie im Krankenhaus an seiner Seite geschlafen, und am nächsten Morgen sagte sie, sie könne nicht länger bleiben: Jetzt ist er ja außer Gefahr,jetzt muss er sich erholen, bestimmt wird er morgen, allenfalls übermorgen entlassen, heutzutage versuchen sie, die Kranken so früh wie möglich wieder loszuwerden; mit den neuen Operationstechniken, minimalinvasiv, bleiben kaum Spuren von der Wunde, auch keine Narben, sie erholen sich in wenigen Tagen. Und das war schon ihr Beitrag an Liebe. Bye, bye. Das Übrige, die Pflege, die schlaflosen Nächte, weil er keine Luft bekam, der Turmix, um ihm Pürees zu bereiten, die er kaum schlucken kann, die Waschmaschine, die Dusche, das An- und Ausziehen, das Windelnwechseln, all
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