Am Ufer (German Edition)
für die Hotelreservierung). Und während dann die Papiere beim Notariat und den Banken fertig gemacht werden, kommt es zum Abendessen im Restaurant und zur Flugbuchung. Die Lebenden nähren und mästen sich auf Kosten der Toten. Das liegt im Wesen der Natur. Man muss sich nur die Tier reportagen im Fernsehen angucken, Riesenvögel, die mit dem Schnabel an den Eingeweiden des Opfers zerren, sich darum balgen; die Löwin, die ihre Klauen ins blutige Fleisch des Zebras schlägt. Aber man muss sich nicht mal raus in die Natur bemühen, die Gondeln in den Supermärkten – ja, die nennt man hier so, obwohl es eigentlich Regale oder Stellagen sind –, also, die Gondeln sind trostlose Friedhöfe: Schultern vom toten Lamm, Knochen und Steaks vom kraft Bolzenschuss erlegten Ochsen, Innereien der abgemesserten Kuh, Filet vom per Stromstoß liquidierten Schwein – gepackt in Schachteln, die aus den Resten gefällter Bäume fabriziert werden. Wir leben von dem, was wir töten. Leben vom Töten oder von dem, was uns tot serviert wird: Die Erben vertilgen die Reste des Vorgängers, und das nährt sie, stärkt sie für den Flug. Je mehr Aas vertilgt wurde, desto höher und majestätischer der Flug. Und desto größernatürlich die Eleganz. Nichts, was außerhalb der Natur gesetze läge.
Wenn ich heimkomme, wird er vor dem Fernseher sitzen, in einer absolut nicht voraussehbaren Laune, die Demenz ist wie eine bipolare Störung, an manchen Tagen schlummert er, schnarcht, den Kopf auf die Brust gesenkt, an anderen scheinen zwei Nadelspitzen in seinen Augen zu stecken, als stände er unter Drogen: Er tritt um sich, wenn er mich sieht, bewegt den Kopf wild hin und her, wimmert oder grunzt und trommelt mit den Fäusten auf meine Brust, versucht, mich ins Gesicht zu schlagen. Wie auch immer, er muss aus dem Sessel gehoben, von dem Laken befreit werden, ich muss den Knoten aufbekommen, das Essen aufwärmen, auf den Tisch stellen, auf die Teller geben, heute gibt es spät Essen, Vater, genieße die Stunden, die dir noch bleiben; auch wenn du es nicht merkst (oder vielleicht doch), es ist ein herrlicher Tag, die Natur verabschiedet uns im Sonntagsstaat, der Winter hat sich für uns als Frühling verkleidet, und der Mann von der Wettervorhersage kündigt für morgen einen ebenso klaren und sonnigen Tag an. Genieße das Gemüse: das Tellerchen mit dem Kartöffelchen, etwas Mangold, einer Artischocke, sehr gutes Gemüse, gesunde Nahrungsmittel, die Artischocke ist harntreibend, der Mangold herzstärkend; ein Glück, dass der Markt von Olba obwohl klein, doch gut sortiert ist und die Erzeugnisse des nahen Anbaugebiets, die man an den Ständen kaufen kann, ergänzt werden durch Importe und Dosenware, die in den Verkaufshallen der Region angeboten werden; vorgestern habe ich mir die Verpackung der getrockneten Früchte angesehen, die ich neben dir beim Fernsehen knabberte –, Exotencocktail, stand auf dem Etikett –, und es stellte sich heraus, dass die Erdnüsse aus China kamen, der Mais aus Peru, die Rosinen aus Argentinien, und nur von den Mandeln war anzunehmen, dass sie aus Spanien stammten: ein echter Weltbürger, ein Kosmopolit, dieser Verpacker von Knabberzeug, wie winzige Buchstaben anzeigten, die ich trotz aufgesetzterBrille kaum entziffern konnte, es handelt sich um ein Unternehmen hier in der Nähe, in Alcasser oder Picassent, ein Dorf aus der Huerta, ich weiß nicht mehr, welches. Ehemalige Dörfer aus der Obst- und Gemüseregion, Dörfer aus der ehemaligen Obst- und Gemüseregion, die nun statt Bohnen, Tomaten und Saubohnen Plastikverpackungen herstellen für den Vertrieb von Früchten, die in zehn- oder zwölftausend Kilometer Entfernung angebaut und geerntet wurden. Umgeben von den Schlafsiedlungen des Industriegebiets. Orte voller Menschen, auf die es nicht ankommt, verlas sene Fabrikhallen, geschlossene Lagerschuppen, Betonesplanaden, auf denen Skater geräuschvoll zwischen leeren Dosen und kaputten Flaschen entlanggleiten. Das Verpackungslager der Trockenfrüchte, gelegen in einem dieser trostlosen Gewerbegebiete, versammelt Energien aus fünf Kontinenten, die in Form von Saubohnen, Erdnüssen, Macadamias, gerösteten Kirchererbsen oder Maiskörnern daherkommen. Welche Orte haben diese Früchte nicht gesehen, bevor sie in der kleinen Plastiktüte landeten, in welchen Lagerhallen von welchen Häfen wurden sie untergestellt, und wie lange hat es gebraucht, bis sie hier ankamen; was für eine Gesellschaft hatten diese Säcke,
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