Am Ufer (German Edition)
oder so was im Kino sehen. Ich glaube, die Tatsache, dass wir zunächst gar nicht wissen, was das ist, legt nahe, dass es sich womöglich um etwas handelt, das nicht in uns steckt, sondern das uns eingetrichtert wird oder das wir übernehmen. Ich glaube, es war ein alter französischer Philosoph, der schrieb, dass, sagt man der Marquise, wie sehr man sie liebt, wie sehr man ihre Intelligenz schätzt und die Harmonie, die sich in ihren Bewegungen ausdrückt, wie sehr man ihre geistreichen Einfälle bewundert und ihre exquisite Sensibilität, man eigentlich sagen will, dass man ganz verrückt danach ist, sie von vorne und hinten und wie eine Hündin zu ficken. Das ist nicht so falsch. Wir verwechseln Sympathie oder Mitgefühl mit der Begierde, wir glauben beschützen und wiegen zu wollen, dabei wollen wir tatsächlich eindringen und bezwingen. Aber auch das ist nicht wahr. Ich habe Liliana mein Kind genannt, ich habe sie beschützen wollen, und das war etwas anderes, eine andere Sprache. Was auch immer der französische Philosoph dachte: Es ist die Sprache, die die Dinge an den einen oder den anderen Ort rückt. Sie erhöht sie oder erniedrigt sie. Gut zu sprechen erhöht, veredelt. Ich sage zu Liliana dasselbe, was mein Vater zu seiner vielgeliebten Carmen sagte. Mein Kindchen, mein liebes Kind, sagte mein Vater und küsste sie. Du gehst so weit fort, Kindchen. Nach Barcelona. Du lässt uns so allein. An jenem Tag sah ich ihn schluchzen. Das einzige Mal. Diese Worte können nicht kontaminiert sein. Wissen Sie, dass die Blüte des Kaffeestrauchs ebenso süß riecht wie die des Orangenbaums? Sie sieht ihr auch ähnlich, weiß, sternenförmig: Orange, Jasmin, der Nachtjasmin, den ihr Galan der Nacht nennt, oder diese mit den ganz kleinen bunten Blüten, die Wunderblume, alles Duftpflanzen. Aber ich glaube, die Kaffeeblüte ist die delikateste unter ihnen. Wir drüben nennen den Kaffee
tinto
, aber für euch ist Tinto ein Rotwein. Ihr Vater erinnert mich an meinen Großvater, ich könnte Ihnen nicht sagen warum, vielleicht wegen des ernsten Gesichts oder den ein wenig traurigen Augen. Ihr Vatermuss ein guter Mann gewesen sein, ein Jammer, ihn in diesem Zustand zu sehen. In seinen Augen liegt Güte. Was weißt du schon, Liliana. Du weißt über deine Sachen Bescheid, über dein häusliches Leid, von dem ich auch ein wenig weiß, weil du mir davon erzählt hast. Ein Leid, das mich bewegt, als wäre es mein eigenes, das in mir das Bedürfnis weckt, dich zu umarmen, die lauen Tränen zu trinken, die über deine Wangen gleiten.
Piel canela
. Nein, du kennst das Lied nicht, du bist zu jung, schwarze Augen, Haut wie Zimt, mir geht’s um dich, um dich, nur ganz allein um dich, so heißt es da. Du bist meine einzige Tochter. Ich habe keine andere. Zumindest keine, von der ich wüsste, die ich anerkenne. Ich hatte ein Kind, aber das ist nicht mehr als ein Blutklümpchen geworden. Was wollen Sie denn damit sagen, Don Esteban? Du lachst? Das sehe ich gerne, Liliana, dass du lachst, nicht wie neulich. Neulich war ich eben so fertig, weil ich für die Kinder nicht mal was zu essen hatte. Die Fächer im Kühlschrank weiß, glänzend, sie hatten nichts zu tragen, die Gemüseschublade leer. Die Firma hat meinem Mann immer noch nicht den Lohn ausgezahlt, ein Glück, dass Sie uns etwas geliehen haben, ich weiß nicht, was wir sonst gemacht hätten. Ich kenne deine Probleme, Liliana, für mich bist du wie eine Tochter, und ich bin der Vater, dem du alles erzählen musst. Was du erlebst, was du träumst, was du wünschst. Du wirst es mir schon zurückgeben, wenn du kannst. Geld ist nichts. Schlimmer noch, Geld ist das, was alles vergiftet, zerstört, ein schlechter Vater, ein Stiefvater, der aber – so ist das nun mal – viele scheinbar unvereinbare Leben zusammenführt. Das ist eine seiner guten Eigenschaften. Es hat noch andere. Man könnte sagen, es ist ein Stiefvater, der seinen Kindern alle Launen erfüllt. Er verzieht sie. Und ohne diesen Kitt, was gäbe es da alles für kaputte Familien, haltlose Existenzen. Aber nein, sie haben Wechsel zu bedienen, Rechnungen zu zahlen, Verpflichtungen nachzukommen, und so bleiben sie zusammen, bis dass der Tod sie scheidet, ganz wie sie es geschworen haben; es kommt allerdings häufig vor, dass solche Menschen nichts anderes im Kopf haben, alssich tagtäglich zu streiten und einander das Leben schwer zu machen, eine Situation, die sie, da andauernd, auch für sicher halten, weshalb sie vor
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